Die Umstände des Auftritts von Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag waren speziell. Es wimmelte im Bundeshaus von Polizisten, als ob der ukrainische Präsident persönlich vor Ort war und nicht per Video zugeschaltet wurde. Die mutmasslich russischen Hackerangriffe auf staatliche und staatsnahe Institutionen hatten Bern nervös gemacht.
Die Aufregung war in jeder Hinsicht unbegründet. In seiner kurzen Rede traf der bestens vorbereitete Selenskyj genau den richtigen Ton. Er machte der Schweiz weder Vorwürfe wegen ihrer Neutralität, noch stellte er Forderungen. Selbst Kritiker des Präsidenten wie der mit einer Ukrainerin verheiratete GLP-Nationalrat Martin Bäumle äusserten sich positiv.
Die Mitglieder von National- und Ständerat quittierten den Auftritt mit stehender Ovation – auch die beiden aus der SVP, die den Boykott ihrer Fraktion ignoriert hatten. Der Berner Nationalrat Andreas Aebi hatte eine gute «Ausrede»: Er präsidiert derzeit die Delegation des Parlaments bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Der zweite «Abtrünnige», der Schaffhauser Ständerat Hannes Germann, gehört zu den vom Aussterben bedrohten SVP-«Sauriern», die meist auf Parteilinie agieren, sich aber auch nichts vorschreiben lassen. Innerlich dürften einige in der Fraktion ähnlich denken, doch Gruppendruck und das Neutralitäts-Dogma setzten den Boykott der Rede durch.
Man kann sich die Frage stellen, ob das Parlament «dem Präsidenten einer Kriegspartei eine Plattform bieten soll», wie die NZZ in einem Kommentar kritisierte. In diesem Verständnis von Neutralität steht Wolodymyr Selenskyj auf der gleichen Stufe wie Wladimir Putin. Wer in diesem Krieg der Angreifer und wer der Angegriffene ist, spielt offenbar keine Rolle.
Dabei ist der Fall klar: Russland hat die Ukraine am 24. Februar 2022 angegriffen und grosse Teile des Landes besetzt. Putins Schergen terrorisieren die ukrainische Bevölkerung mit Drohnen und Raketen. Das lässt sich durch absolut nichts rechtfertigen, auch nicht durch die teilweise komplizierte Vorgeschichte des Konflikts.
Dennoch wird dies hierzulande weiterhin versucht, sei es aus ideologischer, antiwestlicher Motivation oder wegen eines dogmatischen Verständnisses von Neutralität. Die Grenzen sind dabei fliessend. Das zeigt sich auch in der SVP und besonders beim demnächst abtretenden Zürcher Nationalrat und «Weltwoche»-Chef Roger Köppel.
In seinem Magazin spuckte er Gift und Galle gegen die geplante Selenskyj-Rede und bezeichnete den ukrainischen Präsidenten als «Kriegstreiber» (wer hat wen angegriffen?) und «Lügner» (das erste Opfer eines Kriegs ist die Wahrheit). Gleichzeitig war sich Köppel nicht zu blöd, kürzlich eine regelrechte Pilgerreise nach Moskau zu unternehmen.
Dort führte er ein devotes «Interview» mit Marija Lwowa-Belowa, die vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als mutmassliche Kindesentführerin und Kriegsverbrecherin zur Verhaftung ausgeschrieben wurde. Ein solcher Haftbefehl kommt nicht aus heiterem Himmel. Das Gericht muss über handfeste Indizien für seine Anschuldigung verfügen.
Einen Staatschef beschimpfen, der wie ein Löwe für sein Land kämpft, und gleichzeitig einer mutmasslichen Kriegsverbrecherin huldigen? Roger Köppels Vorstellung von Neutralität ist reichlich seltsam. Wobei man fairerweise einräumen muss, dass innerhalb der SVP längst nicht alle seine extreme Haltung teilen. Manchen ist sie peinlich.
Die strikte Auslegung der Neutralität aber wird kaum hinterfragt. Der Ex-Diplomat Paul Widmer, der eine Affinität zu SVP-Positionen besitzt, sagte im Interview mit CH Media, was das mit Bezug auf die Sanktionen gegen Russland bedeutet: Die Schweiz biete nicht Hand zu Umgehungsgeschäften, «sie lässt sich aber auch den ‹courant normal› nicht verbieten».
Konkret bedeutet dies, dass sie «den Handel auf dem Niveau vor dem Konflikt» beschränkt. Das klingt überzeugend, ist aber in der Praxis alles andere als einfach. Die Banken dürften sich daran halten, nur schon aus Angst vor der US-Justiz. Aber was ist mit den sogenannten Finanzintermediären, also Anwälten und Treuhändern, und anderen «Schlaumeiern»?
Paul Widmer, der ein Buch über die Einzigartigkeit der Schweiz verfasst hat, räumt das Risiko im Interview selber ein: «Wenn in der Schweiz Firmen eigens gegründet werden, um Umgehungsgeschäfte zu tätigen, besteht Handlungsbedarf.» Im Klartext: Wenn sich die Schweiz zum «Schlupfloch» bei den Russland-Sanktionen entwickelt, wird es brenzlig.
Der Bundesrat wusste, warum er mit Verzögerung die EU-Sanktionen übernommen und seither stets «nachvollzogen» hat. Dennoch bleibt der Druck hoch. Die G7-Staaten finden, die Schweiz tue noch nicht genug. Auch die verweigerte Weitergabe von Waffen an die Ukraine, die Selenskyj am Donnerstag nur angetönt hat, bleibt ein Stein des Anstosses.
In der Schweizer Bevölkerung ist die Neutralität «tief verankert», schreibt die NZZ. Das mag stimmen, doch es besteht die Bereitschaft, sie pragmatisch anzuwenden. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit die Übernahme der Sanktionen und die Wiederausfuhr von Waffen befürwortet. Den meisten Menschen ist klar, wer in diesem Krieg Täter und Opfer ist.
Der weitere Verlauf könnte die Einstellung zur Neutralität signifikant beeinflussen. Spannend wird es, wenn die aus dem Umfeld der SVP lancierte Neutralitäts-Initiative zur Abstimmung kommt. Ein Ja ist alles andere als garantiert. Es wäre eine hübsche Ironie, wenn gerade die «Fundis» zum Ende der Neutralität beitragen würden, wie wir sie kannten.
Aber wenn ein Staatspräsident zum Parlament spricht, dann hört man als gewählter Politiker gefälligst zu und täubelet nicht wie im Kindergarten. Schliesslich repräsentiert man das Land.
In diesem Fall gebietet nicht nur der Respekt vor einem Präsidenten, sondern der Respekt vor dem ukrainischen Volk, dass man den Wahlkampf mal zur Seite stellt.
Es würde mich interessieren, wie viele SVPler so stillos sind und wie viele sich einfach nicht getraut haben, im Saal zu bleiben. Ist beides erbärmlich.