Er habe den Entscheid zum Rücktritt am letzten Sonntag gefällt, sagte Didier Burkhalter am Mittwoch vor den Medien. Nachvollziehbar ist es, denn der Aussenminister musste in der Sonntagspresse einige nicht sehr schmeichelhafte Dinge lesen. Nach den Wahlen in Grossbritannien wäre der Zeitpunkt günstig, sich mit der EU zu einigen, schrieb die «SonntagsZeitung». Doch Burkhalter setze dies mit seiner «innenpolitischen Blindheit» aufs Spiel.
Hat diese herbe Kritik den Neuenburger veranlasst, den Bettel hinzuschmeissen? Oder hat sie seinen Entscheid zumindest begünstigt? Solche Spekulationen sind vermessen, sie grenzen an Unterstellung. Didier Burkhalter selbst betonte, sein Rücktritt aus dem Bundesrat stehe nicht in Zusammenhang mit dem Europa-Dossier. Und sagte dann doch einiges, das in genau diese Richtung deutet.
Für Medienleute und Politiker steht fest: Die Blockade beim institutionellen Rahmenabkommen mit der EU, über das die Schweiz seit 2014 verhandelt, hat dem Vorsteher des Aussendepartements den Entscheid zumindest nicht erschwert. Dieses Abkommen ist so etwas wie das heisse Eisen der Schweizer Politik, niemand will es richtig anfassen.
Die meisten Parteien mit Ausnahme der Grünliberalen sind auf Distanz zum Rahmenabkommen gegangen. Die SVP will es ohnehin nicht, auch die Linke kann sich nur bedingt dafür erwärmen. SVP-Vordenker Christoph Blocher hat bereits vor vier Jahren ein neues Komitee gegründet, mit dem er diesen «Kolonialvertrag» bekämpfen will, selbst um den Preis der bilateralen Verträge.
Zankapfel sind die «fremden Richter». Im Streitfall zwischen der Schweiz und der EU soll der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entscheiden, auf Wunsch der Schweiz notabene. Für die meisten Medien und Politiker ist klar: Ein solches Abkommen ist in einer Volksabstimmung chancenlos. Didier Burkhalter aber hält stur daran fest – deshalb der Vorwurf der «Blindheit».
Worum geht es überhaupt? Die heutigen Bilateralen sind ein statisches Vertragswerk, ihre Anpassung an neue Entwicklungen ist mühsam. In mehreren Dossiers wären derzeit Gespräche angesagt, doch die EU steht wegen der Blockade beim Rahmenvertrag auf der Bremse, worüber sich die Schweiz massiv ärgert. Mit dem institutionellen Abkommen könnten Anpassungen beim EU-Recht künftig «dynamisch» übernommen und vor allem neue Verträge abgeschlossen werden.
Solche seien derzeit nicht notwendig, heisst es im Bundeshaus. Das Rahmenabkommen habe deshalb keine Eile. Dies ist eine kurzsichtige Argumentation. Am Donnerstag wurden innerhalb der EU die Roaming-Gebühren für Handynutzer abgeschafft. Die Schweiz als Nichtmitglied ist davon ausgeschlossen, sie könnte nur mit einem bilateralen Abkommen daran teilnehmen.
Das Ende des Roamings ist ein erster Schritt zum digitalen Binnenmarkt. Ein Andocken könnte auch für die Schweiz interessant werden. Das gilt für weitere Bereiche, selbst jene, die in die Kompetenz der beiden SVP-Bundesräte fallen. Die Finanzbranche etwa drängt schon seit längerem auf einen besseren Marktzugang in der Europäischen Union.
Mit dem Austritt Grossbritanniens plant die EU zudem eine Vertiefung ihrer Zusammenarbeit im Bereich Verteidigung. Ein wichtiger Fokus liegt dabei auf der Gefahr durch Cyberangriffe. Eine Mitarbeit der Schweiz müsste für Verteidigungsminister Guy Parmelin zum Thema werden, denn der Cyberkrieg nimmt keine Rücksicht auf die Grenzen der neutralen Schweiz.
Zumindest in Teilen des Bundesrats hat man den Nutzen eines Rahmenabkommens erkannt. So soll Bundespräsidentin Doris Leuthard laut der «Schweiz am Wochenende» am CVP-Fraktionsausflug von letzter Woche ihrer skeptischen Partei ins Gewissen geredet haben: «Ich wäre froh, Sie wären ein bisschen mutig, würden nicht nur negativ und ablehnend reagieren.»
Die Energieministerin will mit der EU ein Stromabkommen abschliessen. Die EU macht dies von einem Durchbruch in den Verhandlungen über das Rahmenabkommen abhängig. Dabei sind die hiesigen Energiekonzerne an einem Zugang zum EU-Strommarkt interessiert. Auch im Hinblick auf die Versorgungssicherheit der Schweiz wäre ein solches Abkommen vorteilhaft.
Der EU-Beitritt ist in der Schweizer Bevölkerung so unbeliebt wie nie zuvor. Gleichzeitig wünscht sich eine grosse Mehrheit eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dies geht aus der Studie «Sicherheit 2017» der ETH Zürich hervor. Den EWR-Beitritt als einfachsten Ausweg aus dieser «Schizophrenie» hat die Schweiz vor 25 Jahren zugeschüttet.
Bleibt als sinnvolle Alternative eigentlich nur das institutionelle Rahmenabkommen. Es ist das wohl grösste «Versagen» von Didier Burkhalter, dass er dies Politik, Medien und Bevölkerung nicht zu vermitteln vermochte. Dabei weiss er im persönlichen Gespräch durchaus zu überzeugen. Bei seinen Amtskollegen im Ausland hat sich der Aussenminister damit Respekt verschafft.
Im öffentlichen Auftritt aber wirkt der Neuenburger Freisinnige oft ein wenig abgehoben. Sein zwanghafter Optimismus etwa beim Zuwanderungs-Dossier sorgte für Kopfschütteln. Zuletzt war er selbst für ranghohe Mitarbeiter immer weniger greifbar. Er arbeitete oft von zu Hause in Neuenburg aus und wurde deshalb in Bern als «Homeoffice-Bundesrat» verspottet.
Mit seinem Rücktritt macht er den Weg frei für einen Neustart. Vorerst aber brütet der Bundesrat am Freitag in einer Klausursitzung erneut über dem Europa-Dossier. Er wird nach Wegen suchen, wie man das heisse Eisen auf eine erträgliche Temperatur herunterkühlen kann.
Im Raum steht gemäss «Schweiz am Wochenende» auch ein neuer Name: Konsolidierungsabkommen.