Durchhalteparolen statt Exit-Strategie: Der Druck auf den Bundesrat nimmt zu
Ein Land, eine Regierung: Auf diesen etwas simplen Nenner könnte man das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Bundesrat in der Corona-Krise eindampfen. Sicher, es gab Ärger im Tessin und in der Westschweiz. Im Grossen und Ganzen aber stützen die Menschen in der Schweiz die Politik der Landesregierung im Kampf gegen das heimtückische Virus.
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Nun aber beginnt der Wind zu drehen. Zwei Wochen nach Beginn des Lockdowns häufen sich die Rufe nach einer baldigen Rückkehr zur Normalität. Die Sonntagsblätter waren voll davon. Der Antrieb in fast allen Fällen war die Angst vor einem womöglich irreparablen Schaden für die Wirtschaft durch einen wochen- oder gar monatelangen Stillstand.
So kam das Coronavirus in die Schweiz – eine Chronologie
Das Spektrum reichte von den Gewerkschaften, die Massenarbeitslosigkeit befürchten und einen «Corona-Kündigungsschutz» fordern, über Kleingewerbler und Freelancer, die um ihre Existenz bangen, bis zu Ökonomen und den grossen Verbänden. Der Bundesrat müsse die Wirtschaft wieder in Gang bringen, wenn möglich schon ab dem 19. April, heisst es.
Das Schlimmste abgewendet
Damit steigt der Druck auf den Bundesrat. Er hatte versucht, die Ausbreitung des Coronavirus mit schrittweisen, teilweise widersprüchlichen Massnahmen einzudämmen. Weil die Bevölkerung kaum darauf reagierte, zog er am 16. März die Notbremse. Er verhängte die «ausserordentliche Lage» und legte das öffentliche Leben weitgehend still.
Womöglich ist es dem Bundesrat gerade noch gelungen, italienische Verhältnisse in unseren Spitälern zu verhindern. «Die schlimmsten Prognosen, die wir vor ein paar Wochen gemacht haben, sind nicht eingetreten», sagte Daniel Koch vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) am letzten Samstag. Für eine Entwarnung aber ist es definitiv zu früh.
Die Bevölkerung hält sich jedenfalls weitgehend an die Aufforderung, Abstand zu halten und zu Hause zu bleiben. Höhepunkt des bundesrätlichen Krisenmanagements war die Verabschiedung eines Hilfspakets von 42 Milliarden Franken zur Stützung der Wirtschaft, durch Ausdehnung der Kurzarbeitsentschädigung und Bankkredite zum «Nulltarif».
Der Bundesrat erklärt die «ausserordentliche Lage»
Nun aber vermittelt der Bundesrat den Eindruck, dass er nur noch reagiert, statt zu agieren. Gesundheitsminister Alain Berset fällt mit Durchhalteparolen auf. «Wir laufen derzeit als Gesellschaft einen Marathon, aber wir sind sicher noch nicht in der Hälfte», sagte er am letzten Freitag. In einem Interview mit der Zeitung «La Liberté» erklärte er, die Krise werde «nicht vor Mitte Mai» zu Ende sein.
Heisse Luft aus dem Kessel lassen
Die am Freitag von Berset und Wirtschaftsminister Guy Parmelin angekündigten Massnahmen wirken wie Versuche, ein wenig heisse Luft aus einem unter hohem Druck stehenden Dampfkessel abzulassen. Das betrifft die faktische Legalisierung der Betriebsschliessungen im Tessin, die das Bundesamt für Justiz zuvor noch für unzulässig erklärt hatte.
Ein Zügelverbot am «offiziellen» Termin Ende März/Anfang April hätte zu einer Kaskade von Problemen geführt, also verzichtete der Bundesrat darauf, obwohl sich das Social Distancing kaum einhalten lässt. Auch die verordnete Fristerstreckung für Mieter von Geschäftsliegenschaften löst keine Probleme, sie verschiebt sie bloss in die Zukunft.
Weitere «Notfallübungen» sind in Sicht, für Taxifahrer und andere Selbständige, die mangels Kunden nichts mehr verdienen. Ihnen droht der Gang aufs Sozialamt. Zu einer eigentlichen Zeitbombe könnten die «Ueli-Kredite» werden. Viele Beizer oder Ladenbesitzer werden sie nie zurückzahlen können. Es drohen hohe Ausfälle zu Lasten der Steuerzahler.
Mit zunehmender Dauer des Lockdowns werden sich die Probleme summieren. Damit wird die Forderung Auftrieb erhalten, die berüchtigte «Herdenimmunität» zu erzeugen, indem man «die weniger Gefährdeten wieder in die Schulen und in die Betriebe zurückkehren» lässt, wie SVP-Nationalrat Roger Köppel in der «Weltwoche» fordert.
Junge sterben, Alte überleben
«Es geht nicht ohne die Bereitschaft, eine gewisse Zahl von Toten in Kauf zu nehmen», folgert Köppel. Man kann das als zynisch bezeichnen, aber eigentlich spricht er nur aus, wovor sich andere herumdrücken, die ähnliche Ideen propagieren. Junge und gesunde Menschen haben ein wesentlich geringeres Risiko als alte und kranke, an Covid-19 zu sterben.
In stark betroffenen Ländern wie Italien und Spanien aber gibt es immer mehr solche Fälle. In Belgien ist ein zwölfjähriges Mädchen gestorben, in Paris eine 16-Jährige. Gleichzeitig haben in Italien eine 102-jährige Frau in Genua und ein 101-jähriger Mann in Rimini überlebt. Viren und der menschliche Organismus verhalten sich unberechenbar.
Ähnlich heikel ist die Kehrseite des Konzepts. Gefährdete Menschen müssten weiterhin abgeschirmt und isoliert werden. Laut einer Studie des Bundes aber hat ein Drittel der Bevölkerung ein erhöhtes Corona-Risiko. Sie alle wegzusperren ist kaum möglich. Von den psychischen Folgen eines vielleicht monatelangen «Hausarrests» ganz zu schweigen.
Covid-Verordnung des Bundesrats
Dennoch wird der Druck auf den Bundesrat zunehmen, genau solche Massnahmen zu ergreifen. Nötig wäre deshalb eine durchdachte Exit-Strategie, ohne konkretes Datum – das wäre unseriös –, aber mit schrittweisen, nachvollziehbaren Massnahmen, damit die Bevölkerung zumindest das Gefühl bekommt, dass ein Ende des Marathons absehbar ist.
Schöne und warme Ostern?
Denn auch bei den «gewöhnlichen» Menschen wird die Nervosität zunehmen. Was passiert zum Beispiel, wenn es ein schönes und warmes Osterwochenende geben sollte, worauf die aktuellen Langzeit-Prognosen hindeuten? Nach vier Wochen Lockdown werden Unzählige einfach hinauswollen, weil ihnen in ihren vier Wänden die Decke auf den Kopf fällt.
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Eine weitere Verschärfung aber wird sich kaum durchsetzen lassen. «Ich will keine Ausgangssperre», sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter dem Fernsehsender TVO. Denn auch im Bundesrat wächst die Unruhe. «Die Wirtschaft muss möglichst schnell wieder in den Normalzustand kommen», forderte Finanzminister Ueli Maurer im «Sonntagsblick».
Der Bundesrat hat die Krise bislang im Griff gehabt. Nun muss er aufpassen, dass sie nicht ihn in den Griff bekommt.