Die Grüne Partei der Schweiz wurde vor 40 Jahren gegründet. Fast ebenso lange bemüht sie sich um einen Sitz im Bundesrat. 1987 bewarb sich die Berner Regierungsrätin Leni Robert um die Nachfolge von SVP-Bundesrat Leon Schlumpf. Sie unterlag, wie alle, die nach ihr kamen. Lange spielte das keine Rolle, die Kandidaturen waren rein symbolisch.
Auffällig war, dass die Grünen stets bürgerliche Sitze anpeilten. Die SP wurde geschont. Vor vier Jahren wurde es plötzlich ernst. Die Grünen triumphierten bei den Wahlen 2019, doch als es um die Bundesratsfrage ging, wirkten sie überfordert. Am Ende traten sie mit Parteipräsidentin Regula Rytz gegen FDP-Bundesrat Ignazio Cassis an und scheiterten klar.
Gegen das bürgerliche Machtkartell hatten sie wohl keine Chance, doch sie hatten sich auch kaum um die für einen Coup notwendigen Stimmen aus der Mitte bemüht. Seither stellt sich die Frage, ob die Grünen mit ihrem idealistischen Weltverbesserungs-Image den unbedingten Willen zur Macht besitzen, der für eine Regierungsbeteiligung unerlässlich ist.
Die Zweifel haben sich nicht verflüchtigt, im Gegenteil. Letztes Jahr gaben die Grünen nach den Rücktritten von Ueli Maurer (SVP) und Simonetta Sommaruga (SP) den Verzicht auf eine Kandidatur bekannt. Es war eine realistische Einschätzung, denn eine echte Chance hätten sie nicht gehabt. Trotzdem stellte sich die Frage: Wollen sie überhaupt?
Jetzt wollen sie offenbar. An der Sitzung der Bundeshausfraktion am Samstag in Neuenburg bekräftigten die Grünen ihren Anspruch. «Das Klima braucht einen Sitz im Bundesrat», heisst es in einer Mitteilung. Bei der Gesamterneuerungswahl am 13. Dezember planen sie, «den Anspruch geltend zu machen». Doch wieder fragt man sich: Was heisst das konkret?
Derzeit sieht es so aus, als ob nur der Sitz von SP-Bundesrat Alain Berset frei werden wird. Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) will weitermachen, und andere Abgänge sind erst recht nicht in Sicht, auch wenn man Überraschungen (siehe Sommaruga) nie ausschliessen kann. Das bringt die Grünen in eine heikle Lage: Wen sollen sie attackieren?
Entscheiden wollen sie erst nach den Wahlen am 22. Oktober. Bis 3. November können sich Interessierte melden, und die Fraktion will am 27. Oktober und 10. November ihre Strategie für die Bundesratswahl festlegen. Die SP wartet ebenfalls bis nach den Wahlen, auch wenn der forsche Daniel Jositsch schon am Dienstag mit seiner Kandidatur vorpreschen will.
Am Dilemma der Grünen ändert dies nichts. Sie müssen Farbe bekennen, ob sie die Sozialdemokraten angreifen wollen, ihre wichtigsten Verbündeten im Parlament. Die Signale sind unterschiedlich. Fraktionschefin Aline Trede hat eine gewisse Bereitschaft erkennen lassen, während Präsident Balthasar Glättli eine gewisse Unlust ausstrahlt.
Im Tamedia-«Streitgespräch» mit SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer, das eher ein Austausch von Nettigkeiten war, bekräftigte der Zürcher Nationalrat, dass er lieber der FDP einen Sitz abjagen würde, vor allem wenn der Freisinn und die Mitte nach den Wahlen «tatsächlich gleichauf sein sollten». Ein solches Szenario ist gemäss den jüngsten Umfragen möglich.
In diesem Fall wäre die FDP mit zwei Bundesratssitzen definitiv übervertreten. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer an die Grünen geht, ist dennoch sehr gering. Das Problem beginnt mit der Unlust des Parlaments, amtierende Bundesratsmitglieder abzuwählen, und der noch grösseren Unlust der Bürgerlichen, eines ihrer Mandate den Grünen abzutreten.
Das liegt nicht zuletzt am Linksrutsch der zu Leni Roberts Zeiten eher wertkonservativen Grünen, für den Balthasar Glättli exemplarisch steht. Er hatte 2004 einen erfolgreichen Machtkampf bei der Zürcher Kantonalpartei angezettelt, der zum Rücktritt des damaligen Co-Präsidenten Martin Bäumle und zur Gründung der Grünliberalen geführt hatte.
Seither unterscheiden sich die Grünen nur in Nuancen von der SP, etwa bei der Weitergabe von in der Schweiz produzierten Waffen an die Ukraine. Das erklärt die Hemmungen nicht nur des Parteipräsidenten, im linken Lager für Zwietracht zu sorgen. Das gilt erst recht für den Fall, dass die SP die zweitstärkste Kraft hinter der SVP bleiben sollte.
Daran zweifelt kaum jemand. Selbst die FDP scheint die Hoffnung aufgegeben zu haben, die SP überholen zu können. Vielmehr muss sie wie erwähnt befürchten, dass die Mitte an ihr vorbeizieht. Vermutlich aber bleibt es bei der heutigen «Rangfolge», und die Grünen müssen auch wegen wahrscheinlicher Verluste mit Platz fünf vorliebnehmen.
In diesem Fall wäre eine Bundesratskandidatur nahezu aussichtslos, nicht zuletzt wegen der arithmetischen Konkordanz (je zwei Sitze für die drei stärksten Parteien). Trotzdem wäre eine Kampfkandidatur gegen die SP eine Überlegung wert. Die Grünen könnten ihren Willen zur Macht unter Beweis stellen und sich Respekt mit Blick auf künftige Vakanzen erarbeiten.
Können sie sich dazu durchringen? Man bezweifelt es, doch eine weitere «Alibi-Kandidatur» gegen die Bürgerlichen hilft niemandem. Besser wäre es, sich auf das von ihnen als «Trostpreis» verschriene Amt des Bundeskanzlers zu konzentrieren, das durch den eher überraschenden Verzicht von Walter Thurnherr auf eine weitere Amtszeit frei wird.
Nach anfänglicher Ablehnung signalisierte Aline Trede gegenüber «20 Minuten» zumindest Interesse. Mit einer überzeugenden Bewerbung hätten die Grünen intakte Chancen. Und sie könnten schon einmal im Bundesratszimmer Einsitz nehmen. Der Bundeskanzler ist kein «achter Bundesrat», wie manchmal behauptet wird, aber er besitzt durchaus Einfluss.