«Als gestern Morgen früh die Polizei vor der Tür stand, war das für mich ein Schock». Mit diesem Statement wandte sich Pierin Vincenz am Mittwoch über einen Sprecher an die Öffentlichkeit. Er tat dies zu einem Zeitpunkt, als er bereits von der Staatsanwaltschaft in Zürich vernommen wurde. Diese gab nur Minuten zuvor bekannt, dass sie aufgrund einer im Dezember eingereichten Strafanzeige der Aduno Holding ein Strafverfahren wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung eröffnet habe.
Das Verfahren richtet sich gegen den ehemaligen Verwaltungsratspräsidenten Vincenz und ein weiteres ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrates der Aduno sowie gegen drei weitere Personen aus deren beruflichem Umfeld. Im Rahmen der Ermittlungen sei es am Dienstag zu «diverse Hausdurchsuchungen» gekommen, so eben auch in Niederteufen AR, wo der ehemalige Raiffeisen-Chef wohnt.
Offenbar verbrachten Vincenz und die anderen vier Beschuldigten die Nacht auf Mittwoch in Gewahrsam in Zürich. Gestern wurden sie den ganzen Tag von der Staatsanwaltschaft verhört. Corinne Bouvard, die Sprecherin der Oberstaatsanwaltschaft, bestätigte gegenüber der «Nordwestschweiz», dass es sich bei dem namentlich nicht genannten ehemaligen Verwaltungsratsmitglied um Beat Stocker handelt. Dieser ist langjähriger Geschäftspartner von Vincenz und war während Jahren CEO und Delegierter des Verwaltungsrats von Aduno.
Die Identitäten der drei weiteren Beschuldigten wollte die Sprecherin nicht bestätigen. Mutmasslich handelt es sich um einen langjährigen Anwalt und Geschäftskollegen von Vincenz und Stocker sowie zwei Partner der Beteiligungsgesellschaft Investnet. Bis Redaktionsschluss war nicht bekannt, ob die Beschuldigten auf freien Fuss gesetzt oder ob sie in Untersuchungshaft genommen wurden.
Am Dienstag hat die Staatsanwaltschaft mehrere Hausdurchsuchungen vorgenommen. Neben Vincenz’ Privatdomizil wurde auch jenes von Beat Stocker und weiterer Beschuldigter durchsucht. Bei Raiffeisen ist es zu keiner Hausdurchsuchung gekommen, doch offenbar forderte die Staatsanwaltschaft ultimativ die Herausgabe von Dokumenten. Dies ist insofern brisant, als die Strafuntersuchung ursprünglich von Aduno initiiert wurde.
Offenbar hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren ausgeweitet und untersucht nun auch Transaktionen, die im Zusammenhang mit dem Raiffeisen-Beteiligungsvehikel Investnet stehen. Um diese Transaktionen geht es auch in einem Enforcement-Verfahren, das die Finanzmarktaufsicht (Finma) gegen Raiffeisen führt. Ein parallel geführtes Finma-Verfahren gegen Pierin Vincenz wurde Ende 2017 eingestellt, nachdem dieser aus dem Verwaltungsrat der Helvetia-Versicherung zurücktrat und gegenüber den Bankregulatoren versprach, nie mehr bei einem Finma-regulierten Finanzinstitut tätig zu werden.
Wie ein Finma-Sprecher auf Anfrage bestätigt, kooperiert die Finma mit den Strafverfolgungsbehörden in Zürich. Welche Informationen sie dabei aus ihrer eigenen Untersuchung den Ermittlern in Zürich zur Verfügung stellte, dazu wollte sich der Finma-Sprecher nicht äussern.
Der Eröffnung des Strafverfahrens ging eine wochenlange Voruntersuchung voraus. Im Herbst startete der Aduno-Verwaltungsrat eine interne Untersuchung über möglicherweise heikle Transaktionen während der Ära Vincenz. Am 21. Dezember reichte die auf Bezahllösungen spezialisierte Firma dann eine Strafanzeige ge- gen Vincenz und Stocker ein. Die Staatsanwaltschaft Zürich nahm darauf Ermittlungen auf, die gestern zur formellen Eröffnung eines Strafverfahrens führten.
Für Pierin Vincenz kommt die Strafuntersuchung offenbar wie aus heiterem Himmel. «Ich bin von dieser Strafuntersuchung total überrascht und erstaunt», heisst es in seinem Statement. Der Banker glaubt weiterhin, nichts Unrechtes getan zu haben: «Ich bestreite die gegen mich erhobenen Vorwürfe vehement und werde mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehren. Ich habe die Interessen der Firmen, für die ich gearbeitet habe, stets gewahrt und bin nach wie vor überzeugt, dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen.»
Vincenz wurden eine Reihe privater Transaktionen zum Verhängnis, die er im Umfeld von Firmen tätigte, an denen Raiffeisen beteiligt war. Diese gehen bis ins Jahr 2009 zurück. Damals kaufte Aduno das Unternehmen Commtrain Card Solutions. Schon vor bald zehn Jahren gab es Quellen, die glaubhaft darlegten, dass Vincenz mutmasslich über Mittelsmann Beat Stocker an Commtrain beteiligt war und sich möglicherweise in einem klassischen Interessenskonflikt befand. Wie die gleichen Quellen damals darlegten, flossen die Gelder aus dem Kauf der Commtrain über Umwege zu Vincenz’ privater Beteiligungsfirma Varaplan, die an seinem Privatdomizil ihren Sitz hatte. Vincenz hat die Vorwürfe stets bestritten.
Interessant wird sein, ob und wie das Strafverfahren auf Patrik Gisel abfärben wird. Was wusste der langjährige Stellvertreter und heutige Raiffeisen-CEO über die privaten Aktivitäten seines Vorgesetzten? Inwiefern trug er sie mit, indem er diesen oder jenen Vertrag mitunterzeichnete oder etwas nicht unterzeichnete, obschon er das möglicherweise hätte tun müssen?