Bitte nicht stören!
Ja, die Tibeter dürfen am Sonntag in Bern demonstrieren. Aber nur von 10 bis 12 Uhr auf dem Waisenhausplatz. Damit ist gesichert, dass der grosse Empfang für Chinas Staatspräsident Xi Jinping vor dem Bundeshaus am Nachmittag problemlos über die Bühne gehen wird.
Der städtische Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) schilderte dem «Bund» sein Dilemma: «Auf der einen Seite steht für unser Land wirtschaftlich einiges auf dem Spiel, auf der anderen Seite ist die Meinungsäusserungsfreiheit hoch zu gewichten.» Nause ist immerhin ehrlich. Wenn die Schweiz für Chinas totalitären Machthaber den roten Teppich ausrollt, geht es ums Geschäft.
Die Volksrepublik ist der drittgrösste Handelspartner der Schweiz, hinter EU und USA. Niemand hat das selige Lächeln im Gesicht von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann vergessen, als er 2013 den Abschluss des Freihandelsabkommens mit China verkünden durfte. Da sind Nebengeräusche beim Besuch von Xi Jinping unerwünscht.
Das Debakel von 1999 darf sich keinesfalls wiederholen, als mit Jiang Zemin letztmals ein chinesischer Präsident zur Staatsvisite in der Schweiz weilte. Damals protestierten Exil-Tibeter bei seiner Ankunft lautstark auf dem Bundesplatz. Als Bundespräsidentin Ruth Dreifuss in ihrer Begrüssungsrede auch noch die Menschenrechte ansprach, platzte Jiang endgültig der Kragen. Er attackierte die Schweiz mit undiplomatisch deutlichen Worten.
Es bedurfte des Berglercharmes von Bundesrat Adolf Ogi, um den Staatsgast einigermassen zu besänftigen.
Seither ist die offizielle Schweiz peinlich bemüht, bei Besuchen von chinesischen Regierungsvertretern jegliche Störfaktoren zu eliminieren oder wenigstens zu minimieren. Peinlich sind auch die Eiertänze um den Empfang des Dalai Lama bei seinen Visiten bei der hiesigen Tibetergemeinde. Manche Politiker dürften es insgeheim bereuen, dass die Schweiz bei der Aufnahme von tibetischen Flüchtlingen in den 1950er Jahren dermassen grosszügig war.
Lauf offizieller Sprachregelung wird Bundespräsidentin Doris Leuthard mit Xi Jinping auch über die Menschenrechte reden – vermutlich in einem Nebensatz beim Apéro. Mehr wird man dem roten «Kaiser» und seiner glamourösen Ehefrau Peng Liyuan, einer bekannten Sängerin, nicht zumuten wollen.
Dabei wären deutliche Worte bitter nötig. Seit seinem Amtsantritt Ende 2012 hat Xi die Repression massiv verschärft. Der China-Korrespondent des «Tages-Anzeiger» brachte es letztes Jahr auf den Nenner: «China macht dicht. Politisch. Gesellschaftlich. Ideologisch.»
Hier einige Beispiele, als Denkanstoss für Leuthard und Konsorten:
Xi Jinping spricht gerne über Rechtsstaatlichkeit. Wehe aber jenen, die solche Worte ernst nehmen. Mitte 2015 ging das Regime in einer konzertierten Aktion gegen Menschenrechtsanwälte und andere Aktivisten vor. Begonnen hatte es mit der Verhaftung der unerschrockenen Anwältin Wang Yu und ihrer Familie. Laut Amnesty International wurden mindestens 248 Personen inhaftiert und einige zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. «Chinas Justiz zeigt ihre hässliche Fratze», schrieb die NZZ.
Regimekritiker leben in China gefährlich. Der Bekannteste ist der Schriftsteller Liu Xiaobo, der 2009 zu elf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sein «Verbrechen»: Er hatte die Charta 08 unterschrieben, einen Aufruf zu Reformen und Demokratisierung. 2010 erhielt Liu in Abwesenheit den Friedensnobelpreis. Er sitzt noch immer im Gefängnis. Ins Visier geriet auch der Künstler Ai Weiwei, er war 2011 kurzzeitig in Haft. Sein internationales Renommee schützt ihn wohl vor schlimmeren Repressalien.
Kaum ein Land zensiert das Internet so scharf wie die Volksrepublik China. Die «Great Firewall of China» ist geradezu sprichwörtlich geworden. Diese Zensur aber ist fast schon harmlos verglichen mit einer Massnahme, die die Regierung 2015 vorgestellt hat. Sie will das Verhalten der Chinesen in den sozialen Medien umfassend überwachen und ein «Punktesystem» anwenden. Wer sich stramm linientreu verhält, wird belohnt, etwa mit Auslandreisen. Unliebsames Verhalten führt hingegen zu einem Abzug. Das Regime will die Bevölkerung damit zu Gehorsam «erziehen».
Unabhängige Medien gibt es in China nicht. Seit Xi Jinpings Machtübernahme aber wurde die Kontrolle weiter verschärft. Erst kürzlich knickte Apple ein und entfernte die App der «New York Times» aus der chinesischen Version von iTunes. Der staatliche Fernsehsender CCTV wird zunehmend zum Pranger für unliebsame Zeitgenossen, die «Geständnisse» vortragen, die nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen häufig durch Folter erzwungen wurden.
In der Küstenprovinz Zhejiang, laut Human Rights Watch das «Kernland» des chinesischen Christentums, findet seit 2013 eine eigentliche Kampagne gegen christliche Kirchen statt. Mehr als 1200 Kreuze wurden demontiert, unter dem fadenscheinigen Vorwand von Bauvorschriften. Mindestens 100 Christen, darunter auch Priester, wurden verhaftet. Immer mehr Chinesen haben sich in den letzten Jahren dem Christentum zugewandt, was die Regierung mit der Repression zu unterbinden versucht. Auch andere religiöse Gruppierungen werden verfolgt.
Eine offene Wunde bleiben die notorisch unruhigen Provinzen Tibet und Xinjiang, die mehrheitlich von muslimischen Uiguren bewohnt wird. Die Regierung in Peking fördert die Ansiedlung von Han-Chinesen und unterdrückt die einheimische Bevölkerung. Gegen die Uiguren geht sie zusätzlich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus vor. Der Dalai Lama, der religiöse Führer der Tibeter, wird als Separatist verteufelt, Mönche und Aktivisten verschwinden im Kerker.
Als Grossbritannien die einstige Kronkolonie 1997 an die Volksrepublik zurückgab, erklärte sich Peking bereit, in Hongkong während 50 Jahren nach dem Motto «Ein Land, zwei Systeme» Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zuzulassen. Dieses Versprechen wird zunehmend untergraben, erst recht seit der «Regenschirm-Revolte» von 2014 gegen den chinahörigen Regierungschef. Für Aufsehen sorgte die Entführung von fünf Hongkonger Buchhändlern, die kritische Literatur über Chinas Elite verkauft hatten. Sie wurden zu öffentlicher «Abbitte» im Fernsehen gezwungen.
Aussenpolitisch hielt sich das grösste Land der Welt lange zurück. Auch das hat sich unter Xi Jinping geändert. Die Volksrepublik China gebärdet sich zunehmend aggressiv, insbesondere im Südchinesischen Meer, wo sie ihren Herrschaftsanspruch auf umstrittene Inseln nicht nur anmeldet, sondern diese auch besetzt und militärisch aufrüstet. Eine Klage der Philippinen wurde letztes Jahr von einem Schiedsgericht in Den Haag gutgeheissen, doch der neue philippinische Präsident Rodrigo Duterte ignoriert das Urteil und sucht die Nähe Pekings.
Dies ist nur ein Ausschnitt aus Chinas Sündenregister. Man könnte weitere Beispiele erwähnen, etwa die Verhaftung von fünf Frauenrechtlerinnen, die im März 2015 zum internationalen Tag der Frau eine Kampagne gegen sexuelle Belästigung durchführen wollten.
Es ist eine bekannte Entwicklung: Wenn der Wohlstand in einer Gesellschaft wächst und die Menschen nicht mehr um ihr Überleben kämpfen müssen, entstehen neue Bedürfnisse, etwa nach persönlicher Freiheit.
Für die Kommunistische Partei ist diese Entwicklung alarmierend, denn ihre Politik hat nur ein Ziel: den Machterhalt. Unter dem Deckmantel der «Harmonie» wird abweichendes Verhalten deshalb rigoros unterdrückt. Und die Schweiz drückt beide Augen zu. Nicht wenige bewundern das chinesische System für seine Effizienz, etwa SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher. Kunststück: Wenn jegliche Opposition ausgeschaltet ist, kann man sehr effizient sein.
Offiziell führt die Schweiz mit China seit 1991 einen Menschenrechtsdialog. Das Aussendepartement EDA schreibt dazu auf seiner Website: «Dessen letzte Runde fand im November 2013 in China statt, die nächste Runde ist in der 1. Hälfte 2015 in der Schweiz geplant.» Ein Satz, der Bände spricht, sowohl was den Abstand der Gespräche wie auch die Aktualität des Eintrags betrifft.
Fairerweise muss man sagen, dass die Schweiz nicht allein ist. Alle westlichen Länder machen den Kotau vor den roten Herrschern, denn das Geschäft geht vor. Und China exportiert seine Waren gerne in den Westen. Wen kümmert es da, dass die Führung seit einiger Zeit eine Hetzkampagne gegen westliche Werte entfesselt hat? Und den eigentlich längst eingemotteten «Grossen Vorsitzenden» Mao Zedong wieder zum Idol erhoben hat?
Im Umgang mit China gilt eben das Motto frei nach Bertolt Brecht: Erst kommt die Kohle, dann kommt die Moral. Xi Jinping kann beruhigt nach Bern reisen.
Update: Das EDA hat den zitierten Satz zum Menschenrechtsdialog mit China inzwischen ersatzlos entfernt. Man kann das interpretieren, wie man will.