England und Frankreich sind einzig durch den Ärmelkanal voneinander getrennt. Bei der Bewältigung der Corona-Pandemie aber liegt ein veritabler Ozean zwischen den beiden Ländern. Das zeigte sich am Montag, als der britische Premierminister Boris Johnson und der französische Präsident Emmanuel Macron sich öffentlich zum Thema äusserten.
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Johnson bestätigte an einer Medienkonferenz, dass am kommenden Montag in England – wo die Londoner Zentralregierung für die Gesundheitspolitik verantwortlich ist – fast alle Massnahmen aufgehoben werden. Der Premier mahnte die Bevölkerung zur Vorsicht, doch das Maskentragen wird selbst bei grossen Menschenmengen nur noch «empfohlen».
I cannot say this powerfully or emphatically enough – this pandemic is not over.
— Boris Johnson (@BorisJohnson) July 12, 2021
It is only thanks to the vaccine programme that we are able to take these cautious steps now. But to take these steps we must be cautious and we must be vaccinated.
Please get that jab. pic.twitter.com/GKt2W2iarB
Dabei sorgt die Delta-Variante für einen rasanten Anstieg der Fallzahlen in Grossbritannien. Die Scientific Advisory Group on Emergencies (SAGE), die britische Variante unserer Covid-Taskforce, warnte am Montag vor mindestens 1000 Spitaleinweisungen und 100 bis 200 Todesfällen pro Tag, trotz einer im internationalen Vergleich hohen Impfquote.
Die 7-Tage-Inzidenz stieg auf mehr als 300 Fälle pro 100’000 Einwohnern. In Frankreich ist sie rund zehnmal niedriger, dennoch zieht Präsident Macron die Schraube an, wie er in einer Ansprache ankündigte. Angestellte von Spitälern und Pflegeheimen sowie Arbeitskräfte mit Kontakt zu Risikopersonen müssen sich bis Mitte September zwingend impfen lassen.
Wer sich weigert, kann nicht mehr arbeiten und wird nicht mehr bezahlt. Selbst eine Impfpflicht für die gesamte Bevölkerung scheint nicht ausgeschlossen. Die Impfung sei «vorerst der einzige Weg zurück zu einem normalen Leben», sagte Macron. Heftige Reaktionen blieben nicht aus, denn in Frankreich ist die Impfskepsis weit verbreitet.
Und die Schweiz? Unter Massnahmen- und Impfgegnern wird hartnäckig kolportiert, dass der Bundesrat ein Impfobligatorium einführen will. Im Abstimmungskampf gegen das Covid-19-Gesetz wurde unter anderem mit solchen Befürchtungen operiert. Die Grundlage für eine mögliche Impfpflicht bildet jedoch das Epidemiengesetz von 2013.
Die Kriterien sind eng gefasst. Im Vorfeld der damaligen Volksabstimmung – Impfgegner hatten das Referendum ergriffen – betonte der Bundesrat, die Bestimmungen würden gegenüber dem Vorgängergesetz «stark eingeschränkt». So dürfen die Kantone kein generelles Obligatorium erlassen, sondern höchstens für bestimmte Personengruppen.
Bedingung dafür sei, dass «eine erhebliche Gefahr» bestehe, antwortete der Bundesrat im letzten September auf eine Anfrage des Ausserrhoder SVP-Nationalrats David Zuberbühler. Zwar könne auch der Bund die Impfung solcher Gruppen für obligatorisch erklären, aber seine Kompetenz sei «lediglich subsidiär». Die Verantwortung liegt also bei den Kantonen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass einzelne Kantone – etwa in der Westschweiz – eine beschränkte Impfpflicht nach französischem Vorbild einführen. Angesichts der erwartbaren Widerstände und der Kleinräumigkeit der Schweiz scheint dies wenig praktikabel. Obligatorische Impfungen für die gesamte Bevölkerung seien «nicht möglich», hielt der Bundesrat fest.
Rechtsprofessor Lorenz Langer von der Universität Zürich schloss diese drastische Massnahme gegenüber watson nicht aus. Es bestehe «ein weiter Spielraum». Allerdings müsste der Bundesrat dazu wohl erneut die «ausserordentliche Lage» erklären, und davor dürfte er genauso zurückschrecken wie vor einem allgemeinen Impfobligatorium.
Dabei steigen die Fallzahlen in der Schweiz mit der Ausbreitung der Delta-Mutation ebenfalls wieder an, mit Tendenz zum exponentiellen Wachstum. Der Bundesrat dürfte dennoch versuchen, einen Mittelweg zwischen den beiden «Extremen» England und Frankreich einzuschlagen, indem er etwa das Covid-Zertifikat für weitere Bereiche verbindlich macht.
Es könnte auch in Restaurants zur Anwendung kommen, wie das in Österreich schon heute der Fall ist. In Frankreich soll der Nachweis ab August sogar in Fernzügen und Einkaufszentren verpflichtend sein. Dies sorgte am Montag dafür, dass sich fast eine Million Menschen für die erste Impfung anmeldeten, so viele wie nie zuvor an einem Tag.
Dies läuft auf eine Art «sanften» Impfzwang hinaus, der auch bei uns möglich wäre. Wenn man sämtliche Covid-Tests künftig bezahlen müsste, wären manche wohl eher bereit, die kostenlose Impfung zu akzeptieren. Auch in diesem Punkt weist Frankreich den Weg. Dort sollen PCR-Tests, die heute noch gratis sind, ab Herbst kostenpflichtig werden.
Der Aufschrei der Impfgegner wäre so oder so programmiert. Die Schweiz aber wird angesichts der vielen Neuinfektionen keine andere Wahl haben, als das zuletzt erlahmte Impftempo wieder anzukurbeln und dennoch ein Obligatorium möglichst zu vermeiden. Die englischen «Turbo-Öffnungen» jedenfalls können keine ernsthafte Option sein.
Vielleicht sollte der Zeitdruck aber etwas erhöht werden.
Aktuell wird der Bevölkerung die Gratis-Impfung auf dem Silbertablett präsentiert.
Sonderangebote und Aktionen laufen in der Privatwirtschaft vor allem dann, wenn sie zeitlich limitiert sind.
Gratisimpfung für alle, welche sich bis Ende August dafür anmelden. Danach Impfung und Tests kostenpflichtig.
Ein grosser Teil der Impfzögerer würde sich hierdurch wahrscheinlich impfen lassen.
Die hartgesottenen Impfgegner wird man sowieso nie erreichen.