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Coronavirus

Corona: Warum die Spitäler bereits jetzt zum Bersten voll sind

Mitarbeiter des Gesundheitswesen tragen Schutzkleidung w
Um Coronapatienten auf der Intensivstation zu behandeln, bedarf es viel Personal.Bild: sda

Trotz weniger Patienten: Warum die Spitäler bereits jetzt zum Bersten voll sind

Spitäler aus allen Ecken des Landes schlagen Alarm. Dabei hat es im Vergleich zum letzten Jahr substanziell weniger Covid-Fälle auf den Intensivstationen. Wie ist das möglich?
03.12.2021, 06:0003.12.2021, 12:14
Dennis Frasch
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Reto Fehr
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Man wähnt sich derzeit in einem Déjà-vu. Die Schlagzeilen wiederholen sich, die Appelle der Politik wiederholen sich, die Warnrufe aus den Intensivstationen wiederholen sich. Alles erinnert an die Herbstwelle letzten Jahres.

Im Kanton Zürich gebe es keine freien Betten auf den Intensivstationen mehr, sagte Peter Steiger, stellvertretender Direktor des Instituts für Intensivmedizin am Universitätsspital Zürich, am Mittwoch gegenüber Radio SRF1.

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Blickt man auf die Karte, so stellt man fest: Auch in St.Gallen, Solothurn, Wallis und Schwyz sind die IPS-Stationen voll.

Stephan Jakob, Chefarzt der Berner Universitätsklinik für Intensivmedizin, ist sich deswegen bereits sicher: «Die Triage wird kommen.»

Alles wiederholt sich.

Dabei ist die Ausgangslage eine ganz andere. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist doppelt geimpft. Trotz gleich hoher Infektionszahlen wie beim Peak letztes Jahr sind die Hospitalisationszahlen nicht einmal halb so hoch. Und doch: Die Intensivstationen sind voll. Wie kann das sein?

Die Zahlen widersprechen sich

Die aktuelle Lage dürfte Wasser auf die Mühlen der Impfgegner sein. Sollte die Impfung nicht genau solche Horrorszenarien verhindern?

Doch. Das sollte sie. Und das tut sie auch. Die jetzige Lage ist nicht allein dem Coronavirus geschuldet. Zumindest nicht direkt.

Zuerst ein Blick auf die Daten. Bei flüchtiger Beurteilung scheint hier tatsächlich etwas nicht zusammenzupassen. Die Anzahl Hospitalisationen (sprich: die Anzahl neuer Patienten in den Spitälern) ist momentan noch weit entfernt von jener im Herbst 2020.

Auch auf den Intensivstationen zeigt sich sowohl auf nationaler Ebene als auch in den überlasteten Kantonen Zürich und St.Gallen kein riesiger Anstieg an Patienten auf den Intensivstationen.

Für etwas weniger Verzerrung: die gleichen Daten ohne die Schweiz.

Prozentual ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild: Die Auslastung der Intensivstationen ist so hoch wie noch nie seit Ausbruch der Pandemie.

Der Faktor Mensch wird vergessen

Der Widerspruch lässt sich leicht erklären: Es stehen schlicht und einfach nicht mehr so viele Intensivbetten zur Verfügung. In Zürich waren es letztes Jahr noch über 300, heuer sind es noch knapp 190.

Auch auf nationaler Ebene sank die Anzahl Intensivbetten. Vor genau einem Jahr gab es noch über 1100, heute sind es noch knapp 870.

Ein weiteres Argument, das Coronaskeptiker gerne ins Feld führen: Man baue stetig Intensivbetten ab und erhalte die Pandemie so künstlich am Leben. Sie stützen sich dabei auf Daten des BAG, die genau das suggerieren. Doch die Daten des BAG sind irreführend.

In Wirklichkeit ist es so, dass gar keine zertifizierten Intensivbetten abgebaut wurden. Weder in Zürich, noch in der Schweiz insgesamt. Franziska von Arx, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) erklärte gegenüber der NZZ, dass die Anzahl zertifizierter Intensivbetten während der gesamten Pandemie bei ungefähr 870 gelegen habe. Der Zürcher Regierungsrat erklärte selbiges am Donnerstag: «Die Zahl der zertifizierten Intensivpflegebetten in Zürcher Spitälern ist im Verlauf der Coronapandemie nicht wesentlich gesunken.» Sie läge nach wie vor bei rund 190 Betten.

Alle anderen Betten sind nicht zertifizierte Reserve-Betten, auch Ad-Hoc-Betten genannt, für die weniger strenge Regeln gelten. In der ersten und zweiten Welle wurden jeweils hunderte dieser Reserve-Betten bereitgestellt, nun nicht mehr. Der Grund dafür ist simpel: Die Überbeanspruchung des Gesundheitssystems misst sich nicht in Betten, sondern anhand der Kapazitäten des Personals.

Will heissen: Das Gesundheitspersonal kann und will nicht mehr. Franziska von Arx geht davon aus, dass rund 10 bis 15 Prozent der «Expertinnen Intensivpflege» seit Beginn der Pandemie gekündigt hätten, andere reduzierten ihr Pensum. «Der begrenzende Faktor bei den Intensivstationen ist das Personal, wir können die Kapazitäten nicht mehr kurzfristig erhöhen», heisst es auch vonseiten des Zürcher Kantonsrates.

Der Teufel liegt im Detail

Bei den vorherigen Wellen konnte man die Reserve nur dank der Gutmütigkeit des Pflegepersonals anzapfen. Bei der ersten Welle zu Beginn der Pandemie habe man noch viel Goodwill gehabt von Freiwilligen und Pflegenden, die zum Beispiel auf ihre Ferien verzichtet hätten, oder Pensionierten, die für Einsätze zurückkehrten, erklärt Stephan Jakob von der Berner Universitätsklinik. Das sei aber nicht mehr der Fall.

Es ist also sinnlos, Reservebetten aufzubauen. Stand jetzt reicht das Personal nicht einmal, um die regulären zertifizierten IPS-Betten zu betreuen. Das Personal reiche für 750 bis 800 Betten, schätzt Hans Pargger, Leiter der Intensivstation des Universitätsspitals Basel, in der NZZ. «Alles, was darüber hinausgeht, hat bereits Abstriche bei den Betreuungsstandards oder die Verschiebung von geplanten Eingriffen zur Folge.»

Grund dafür ist der erhöhte Personalbedarf für Covid-Patienten. Es braucht 1,5-mal so viele Pflegende wie für «normale» IPS-Patienten, schätzt Arx.

Das heisst auch: «Normale» IPS-Patienten müssen warten, wo auch immer dies möglich ist. Dies ist schön in der Grafik zu sehen: Steigt der Anteil an Covid-Patienten, sinkt jener der restlichen IPS-Fällen.

Die «stille Triage»

Zu guter Letzt dürfte auch die «stille Triage» dazu beitragen, dass die Anzahl Covid-Patienten auf den Intensivstationen noch verhältnismässig gering ist.

Die stille Triage ergebe sich für die Spitäler aus der Unterversorgung, die immer dann passiere, wenn ein Spital Bettennot auf der ­Intensivstation habe, die Verlegung an andere Spitäler nicht richtig funktioniere – und zu viele Patienten versorgt werden müssten. «Dann werden ­Patienten zum Beispiel auf Normalstationen versorgt, die sonst auf die Intensivstation müssten», sagte Medizinethikerin Tanja Krones gegenüber der NZZ.

In einigen Fällen werden sie gar nicht mehr ins Spital eingeliefert. So wie letztes Jahr, als der Kanton Zürich die Weisung gab, Patientinnen und Patienten nur noch unter bestimmten Bedingungen von den Heimen zu verlegen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Die IPS-Stationen sind trotz weniger Covid-Fällen als in den letzten Wellen voll. Die Impfung und die (stille) Triage verhindern momentan wahrscheinlich einen totalen Kollaps des Gesundheitssystems, denn die Spitäler können keine Reservebetten mehr betreiben. Es fehlt schlicht an Personal.

Wie lange diese risikoreiche Strategie noch gut geht, steht in den Sternen. Der Peak an Infektionen scheint noch nicht erreicht zu sein. Und die Hospitalisationen und Verlegungen auf die Intensivstationen hinken den Fallzahlen stets mehrere Tage hinterher.

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413 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Aspirin
03.12.2021 06:48registriert Januar 2015
Das Schlimme im Moment ist auch, dass viele dieser Fälle verhinderbar gewesen wären, und ich im Moment auch noch Zeit damit verbrate, mit Impfskeptikern bei mir auf der COVID-Abteilung zu diskutieren, die natürlich auch die Behandlung besser können als wir im Spital. Manchmal möchte ich ko….
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Rethinking
03.12.2021 06:19registriert Oktober 2018
Das „geilste“ an diesem System ist ja, dass das Personal durch die hohe Auslastung noch stärker ausbrennt und dadurch die Anzahl Betten weiter sinken wird, währendem die Anzahl Patienten steigen wird…
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snowflake_
03.12.2021 06:28registriert September 2019
Die Diskussion darüber, dass man einfach mehr IPS-Personal hätte generieren sollen (wie auch immer das hätte geschehen sollen…) ist sowieso überflüssig. Was wäre dann jetzt, gäbe es noch freie Kapazität? Es würde heissen, es hat noch Platz im Spital, man würde einfach 2-3 weitere Wochen abwarten und beobachten, und wäre dann einfach am exakt gleichen Punkt angelangt.
Daher ist bereits nur schon das Führen dieser Diskussion ein Tappen in die Schwurblerfalle.
Wir hatten jetzt genug Zeit, um die Situation in D und AT zu beobachten und zu reagieren, aber wir Schweizer wissen es halt besser.
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