Es war der letzte Krieg auf Schweizer Boden. Im November 1847 kämpften im Sonderbundskrieg 100'000 Mann der protestantisch-liberalen Kantone gegen 80'000 Mann des Sonderbunds der katholisch-konservativen Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug, Freiburg und Wallis.
Streitpunkt war die zukünftige Ausrichtung der Eidgenossenschaft. Die liberalen Kantone wollten die einfachen Bürger stärker mitreden lassen. Zudem sollte der Staat künftig über die Kirche bestimmen. Den konservativen Kantonen gefiel dies nicht.
Militärisch fiel die Entscheidung am 23. November in den Luzerner Landgemeinden Gisikon, Honau und Meierskappel für die Liberalen. Tags darauf besetzte General Guillaume-Henri Dufour kampflos Luzern, die Hochburg des Sonderbunds.
Der Sonderbundskrieg ist auch Ausgangspunkt einer gegenläufigen Geschichte zweier Parteien. Die reformierten Liberalen - die FDP - entwickelten ein «Gewinner-Gen», die katholischen Konservativen - die spätere CVP und heutige Mitte - ein «Verlierergen».
Diese beiden Begriffe stammen vom Entlebucher Alt-CVP-Nationalrat Ruedi Lustenberger, Nationalratspräsident von 2014. Er lebt in Romoos, an der Grenze des katholischen Entlebuchs zum reformierten Emmental und kennt damit die religiös motivierten politischen Streitigkeiten.
Im Nachgang zum Sieg im Krieg wandelte der Freisinn die Schweiz mit einer neuen Bundesverfassung vom Staatenbund zum Bundesstaat um und zur ersten stabilen Demokratie Europas. Die Tagsatzung hatte der Verfassung am 12. September 1848 zugestimmt - vor 175 Jahren also, was die Schweiz heuer feiert. Der Freisinn stellte bis 1919 sechs von sieben Bundesräten.
Die katholisch-konservativen Verlierer hingegen standen vor dem Nichts. Sie waren isoliert, auch wenn sie als Konzession den Ständerat erhielten. Ihre Anführer mussten das politische Feld räumen oder gar ins Ausland fliehen. Erst 43 Jahre später - 1891 - liess der Freisinn den ersten CVP-Bundesrat zu: Josef Zemp, Entlebucher wie Lustenberger.
Heute, mitten im (freisinnigen) Jubiläumsjahr, kündigt sich aber eine mögliche grosse Überraschung an. Aus Siegern könnten Verlierer werden und aus Verlierern Sieger: Die neuste SRG-Wahlumfrage zeigt, dass die Mitte als Nachfolgepartei der CVP ganz nahe an den Freisinn rückt. Sie liegt mit 14.3 Prozent nur noch 0.3 Prozentpunkte hinter der FDP mit 14.6 Prozent - und könnte sie bei den Wahlen 2023 überholen.
Das wäre ein historischer Schritt. Die ehemalige CVP schaffte es nie, die FDP zu überholen. Obwohl sie dies 1955 nur hauchdünn verpasste: Die CVP kam auf 23.2 Prozent - und das reichte um 0.1 Prozentpunkte nicht, um mit der FDP gleichzuziehen.
Die Christdemokratischen Parteien seien damals in Europa im Aufschwung gewesen, sagt Historiker Urs Altermatt, auch Herausgeber des Bundesrats-Lexikons. «In diesen Zusammenhang gehören die Gewinne der damaligen CVP.» Danach vergrösserte sich der Abstand zwischen CVP und FDP wieder.
Das könnte sich 2023 ändern. «Die FDP hat seit 1848 bis heute von ihrem Gewinnergen gezehrt», urteilt Ruedi Lustenberger. Die CVP wiederum habe sich «mit kämpferischem Verhalten» bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vorübergehend von ihrem Verlierergen befreien können. «Dann aber gab es schmerzliche Einbussen.» Die CVP hatte ihre Aufgabe - die Integration der Katholiken - erfüllt.
2020 wagte allerdings die CVP den Sprung über die Konfessionsgrenze und fusionierte mit der protestantisch geprägten BDP. Ein Schritt, der sich zunehmend als Coup herausstellt. Besonders interessant an dieser Geschichte: Auch die FDP hatte um die BDP gebuhlt.
Beide Parteien hätten der BDP 2019 «sehr gute und faire Angebote» für eine Fraktionsgemeinschaft gemacht, da die BDP ihre Fraktionsstärke verloren hatte, sagt Mitte-Nationalrat Martin Landolt, letzter Präsident der BDP. Dass sich die BDP für die CVP entschied, habe mit dem Angebot des damaligen CVP-Präsidenten Gerhard Pfister zu tun, die neue Fraktion als Mitte zu bezeichnen. «Damit konnten wir das Gesicht wahren», sagt Landolt. «Wir waren ein Partner auf Augenhöhe.»
Seit der Fusion der Parteien Ende 2020 positioniert Präsident Pfister die Mitte linker, jugendlicher und weiblicher als die ehemalige CVP - und hat trotzdem kaum Wählende aus den Stammlanden verloren.
«Pfister positioniert und schärft die neue Mitte und ihre Werte - Freiheit, Solidarität und Verantwortung - brillant», sagt Landolt. «Wie etwa mit seiner Haltung zur Ukraine. Das muss man umso höher gewichten, als das kein Spaziergang ist mit all den Alphatieren in der Partei.»
Die Mitte ziehe viele Junge und Frauen an, sagt Landolt. Sie werde im Wettbewerb um die junge Generation zu einer «echten Konkurrenz» für die GLP. «Sie muss nun in den nächsten Jahren noch einen Generationenwechsel schaffen. Dann ist sie perfekt aufgestellt.»
Anders sieht die Gefühlslage beim Freisinn aus. Nach einem guten Start mit viel Aufwind unter dem neuen Präsidenten Thierry Burkart stockte der Lauf der Partei. Die Listenverbindungen mit der SVP sorgen für Unruhe im Freisinn. Noch immer kann sich die FDP in ihrem Selbstverständnis als Begründerin der modernen Schweiz aber nicht vorstellen, ihren zweiten Bundesratssitz zu verlieren.
Historiker Altermatt ortet aktuell einen ähnlichen Umbruchprozess, wie in den 1950er-Jahren. «Die Polparteien, vor allem die Rechte, wachsen in ganz Europa, was die Schweiz mit der SVP vorweggenommen hat», sagt er. «Die Linke gruppiert sich mit den Grünen neu.» Und die Frage sei: «Was passiert mit der Mitte?» Seine Folgerung: «Selbstverständlich kann ein Vorbeiziehen der Mitte an der FDP der laufenden Debatte über die Zauberformel eine neue Dimension verleihen.»
Mitte-Präsident Pfister hält den Ball flach. «Umfragen sind Momentaufnahmen», sagt er. «Entscheidend sind die Wahlergebnisse.» Auf die Frage, was das für die FDP bedeuten würde, sagt FDP-Präsident Burkart: «Das ist eine hypothetische Frage. Bei den Umfragen liegt die FDP vor der fusionierten Mitte-Partei.»
Burkart betont, die FDP pflege keine historischen Spannungen mit der Mitte, sondern arbeite dort mit ihr zusammen, wo es gemeinsame Positionen gebe. «Im Ständerat ist das oft der Fall, weil sich die Mitte-Ständeräte oft nicht an die Partei-Order halten», sagt er. Im Nationalrat hingegen gestalte sich die Zusammenarbeit «zunehmend schwieriger», weil die Mitte, «um dem Zeitgeist zu entsprechen, oft mit Links koaliert und deshalb zunehmend orientierungslos wirkt».
So komme ihr Rezept einer Kostenbremse gegen die steigenden Krankenkassenprämien aus der «linken Mottenkiste» mit dem Globalbudget. «Die Mitte riskiert damit im Gesundheitswesen Zustände wie in England, wo die Patienten teils 12 Monate und mehr auf eine Behandlung warten müssen.»
Zudem habe Pfister bei den Listenverbindungen die Order herausgegeben, keine Listenverbindungen mit der FDP einzugehen. Burkart: «Pfister bekämpft in erster Linie die FDP. Zum Glück halten sich nicht alle seiner Kantonalparteien daran.»
Der Entlebucher Ruedi Lustenberger ist zwar Katholik. Doch religiös ist er unverdächtig. Drei seiner vier Töchter haben einen Protestanten geheiratet. «Doch das war bei uns zuhause nie ein Thema», sagt er.
Lustenberger weiss aber, dass die Sonderbundsfrage weit ins 20. Jahrhundert reichte, gerade im Kanton Luzern. «Als ich 1991 in den Luzerner Grossrat gewählt wurde, habe ich realisiert, dass es historische politische Feindschaften gab zwischen CVP- und FDP-Mitgliedern», sagt er. «Diese führten teilweise bis in die Zeit des Sonderbundkriegs zurück.»
In seinem Buch «De Reineck und de Schriber» - es geht um 60 Romooser Originale - schreibt er auch über diese Animositäten. Es erscheint diesen Herbst.
Für Lustenberger war aber General Dufour «eindeutig mehr Friedensfürst als Kriegstreiber». Er spielt auf die geringen Opfer an, die der Krieg forderte: Es gab 93 Tote, 500 Verwundete, fast keine Plünderungen. «Eine Frau sagte mir einst im Bundeshaus, General Dufour sei die Inkarnation von Niklaus von der Flüe. Ein starker Satz, den ich nie vergessen werde.»
Lustenberger betont das Gemeinsame von CVP/Mitte und FDP, die im Kanton Luzern erst 2015 eine gemeinsame Liste eingingen. «Heute wünsche ich mir, dass beide wachsen und beide wieder gegen 20 Prozent Wähleranteil haben», sagt er. «Mitte und FDP sind nach wie vor die tragenden Säulen der Eidgenossenschaft.»
Die Mitte liege ihm am meisten am Herzen. «Dann kommt rasch der Freisinn», sagt er. Auch wenn der «noch etwas grüner» werden dürfte. (aargauerzeitung.ch)
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Wieso soll ein echt fortschrittlich Denkender mit weniger als 100'000.- Lohn diese Partei wählen... 🫣