Es sind zwei der brutalsten Kriminalfälle der Schweiz, die noch nicht aufgeklärt sind. Die Täter laufen frei herum, ihre Verbrechen sind ungesühnt. Und die Strafbehörden wollen bei ihren Ermittlungen nichts unversucht lassen.
Am 21. Juli 2015 wird eine 26-jährige Frau in Emmen von ihrem Velo gerissen und vergewaltigt. Sie erleidet so schwere Verletzungen, dass ihre Arme und Beine gelähmt bleiben. Fünf Monate später, am 21. Dezember, werden vier Menschen in Rupperswil heimtückisch ermordet. Die Opfer haben Stichverletzungen und sind mit Kabelbindern gefesselt, ihr Haus wird in Brand gesetzt. Der Fall Emmen und der Fall Rupperswil, sie bewegen die Schweiz.
Bei beiden Fällen setzen die Strafbehörden auf eine Ermittlungsmethode, die kaum jemand kennt: Der Antennensuchlauf funktioniert ohne grosses Aufsehen. Heimlich, still, leise. Und genau so hat er sich zu einem mächtigen Werkzeug der Ermittler entwickelt. Ohne dass die Öffentlichkeit gross davon Notiz nimmt.
Mit einem Suchlauf finden die Behörden heraus, welche Handys in einem bestimmten Zeitraum an einer bestimmten Antenne eingewählt waren. Oder anders gesagt: Welche Menschen sich gerade an dem entsprechenden Ort befanden. Wer hat mit wem telefoniert, gemailt oder gesimst? Die sogenannten Randdaten verraten es. Nicht wenige könnten wegen eines Antennensuchlaufs schon mal ins Visier der Behörden geraten sein. Ohne ihr Wissen zählten sie zu den potenziellen Verdächtigen einer Straftat. Keine andere Methode der Strafverfolger kann systematisch so viele Bürger treffen.
Damit ein Handy erfasst wird, muss sein Besitzer nicht einmal telefoniert oder SMS geschrieben haben. Es reicht, wenn sein Gerät eingeschaltet ist. Netzbetreiber wie die Swisscom müssen die Daten von Funkzellen herausrücken, wenn ein Gericht dies anordnet. Die Abdeckung einer Antenne reicht von mehreren Kilometern auf dem Land bis zu hundert Metern in dicht besiedelten Gebieten.
Über Antennensuchläufe ist nur wenig bekannt. Und das, was bisher ans Licht kam, weckt Zweifel an der Methode. Juristen sprechen von einer «digitalen Rasterfahndung». Auch deshalb verweisen Behörden gern auf Fälle wie die von Rupperswil oder Emmen, um die Notwendigkeit zu rechtfertigen.
Wie die Ermittler vorgehen, zeigt exemplarisch der Fall Emmen. Sie durchforsten die Handydaten nach Hinweisen auf den Vergewaltiger. Wer zum Profil des mutmasslichen Täters passt, wird näher überprüft.
Doch gleichzeitig gibt es Menschen, die zufälligerweise in der Nähe des Tatorts waren. Allein die Luzerner Ermittler haben die Handydaten von Tausenden Handynummern abgeschöpft. Denn die Antennen in der Nähe des Tatorts liegen auch unweit der Autobahn. Beim Rupperswiler Vierfachmord sind sogar «mehrere 10'000 Handynummern» betroffen, heisst es bei der Aargauer Staatsanwaltschaft. Ausgewertet werden etliche Antennen in der Region.
Genaue Zahlen müssen die kantonalen Behörden nicht offenlegen. Der Dienst ÜPF des Bundes, der die Überwachungsaufträge der Kantone mit den Providern koordiniert, hat laut Sprecher Nils Güggi «keine Kenntnisse» über die Daten. Zum Vergleich: Bei einer Abfrage in der Agglomeration werden gemäss deutschen Erhebungen durchschnittlich gut 40'000 Datensätze gespeichert.
Datenschützer kritisieren, dass ein Antennensuchlauf im Zeitalter von Smartphones zu unbestimmt sei. Der Verein Digitale Gesellschaft stellt die Verhältnismässigkeit infrage: Unzählige Menschen seien angehalten, ihre Unschuld zu belegen.
Gleicher Ansicht ist der Strafrechtler und Rechtsanwalt Konrad Jeker, der einen der wenigen Fachaufsätze zu dem Thema verfasst hat. Antennensuchläufe bezeichnet er als «problematische Massnahmen». Was ihn besonders stört, ist die fehlende Transparenz.
«Handynutzer sind einem Antennensuchlauf ausgeliefert», sagt Jeker. Betroffene bleiben ahnungslos. Informiert werden sie nur, wenn die Behörden nebst den Handydaten auch weitere Angaben wie Wohnadressen anfordern. Gerade beim Fall Emmen sei es zudem fraglich, was die Polizei mit den Daten von Tausenden Menschen überhaupt erreichen will.
Im Jahr 2015 haben Schweizer Strafbehörden die Handydaten von 124 Antennen abgefischt. Wie gross die ausgewerteten Zeiträume sind und um wie viele Ermittlungsverfahren es geht, verschweigen offizielle Statistiken. Ebenso unklar ist, wie viele Verbrechen dank den erhaltenen Handydaten aufgeklärt worden sind.
Der Aargau besetzt, absolut gesehen, den Spitzenplatz unter den Kantonen. 24 Antennen haben die Aargauer Behörden im vergangenen Jahr ausgewertet. Die Methode ist gemäss Kantonspolizei-Sprecher Bernhard Graser «in rund einem halben Dutzend Ermittlungsverfahren» eingesetzt worden. Der Fall Rupperswil sei dabei der umfangreichste.
Auf den Aargau folgt Bern mit 18 Antennensuchläufen. Gemessen an der Einwohnerzahl wurde der Antennensuchlauf in Neuenburg am häufigsten eingesetzt. Die Hälfte der Kantone verzichtete in den vergangenen Jahren komplett darauf.
Das Parlament hat eben seine Beratungen über das neue Überwachungsgesetz abgeschlossen. Die Rechtsgrundlage von Antennensuchläufen bleibt damit allerdings schwammig: Diese sind in einer Verordnung geregelt, gestützt auf ein Urteil des Bundesgerichts von 2011. Die Methode sei bei einem dringenden Tatverdacht zulässig.
Weil dabei in die Grundrechte eingegriffen wird, ist ein Antennensuchlauf aber auf «schwere Verbrechen» beschränkt. Allen Möglichkeiten zum Trotz, am Ende bleibt für Ermittler stets eine grosse Unbekannte: Was, wenn ein Täter gar kein Handy in der Hosentasche hatte? Oder keines, das auf seinen Namen registriert ist?