«Unsere Leute in Brüssel»: Alt-Nationalrat und Neo-Journalist Christoph Mörgeli durchleuchtete kürzlich in der «Weltwoche» das Personal der Schweizer Mission in Brüssel. Der SVP-Vordenker teilte auch ein paar Seitenhiebe an Roberto Balzaretti aus – auch wenn dieser längst in die Zentrale nach Bern zurückgekehrt ist. Er leitet seit 2016 die Direktion für Völkerrecht. Balzaretti sei «ausgesprochen europhil», schrieb Mörgeli und erinnerte an die Aussagen des ehemaligen Botschafters in Brüssel im Vorfeld der Brexit-Abstimmung: «Die Briten sollten die Situation der Schweiz kennen, um eines zu wissen: EU-Mitgliedstaat zu sein, ist angenehmer.»
Diese Sätze zitieren SVP-Politiker derzeit gerne, wenn es um Balzaretti geht. Ausgerechnet diesem Tessiner Karrierediplomaten will der neue Aussenminister Ignazio Cassis also eine Schlüsselrolle im EU-Dossier geben. So hat sich die grösste Partei den «Reset» in der Europapolitik nicht vorgestellt. Zwar hat sich die SVP auf Staatssekretärin Pascale Baeriswyl eingeschossen. Doch «Balzaretti statt Baeriswyl – das hiesse, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben», hielt die «Weltwoche» auch fest.
Tatsächlich ist der 53-Jährige eng mit der Schweizer Europapolitik verflochten. Er war Chef der EU-Mission in Brüssel, als das nun so verpönte Verhandlungsmandat zum Rahmenabkommen entstand. Baeriswyl war dannzumal in New York tätig und hatte mit der EU-Politik nichts zu schaffen.
Ein Geschenk von Cassis an seine SVP-Wähler dürfte die bevorstehende Beförderung Balzarettis nicht sein. Verschiedene Medien machten Ende letzter Woche publik, dass Balzaretti neuer Chef der Direktion für Europäische Angelegenheiten (DEA) werden soll. Das Geschäft ist morgen im Bundesrat traktandiert. Was steht also hinter dieser Ernennung? Nüchtern betrachtet: Die DEA brauchte eine neuen Chef, weil der bisherige, Henry Gétaz, neuer Efta-Generalsekretär wird. Gétaz verhandelt für die Schweiz das institutionelle Rahmenabkommen – das heisseste Dossier in den Beziehungen zur EU.
Gemäss der «Luzerner Zeitung» ist geplant, dass die Ernennung Balzarettis mit einer Aufwertung des Amtes einhergeht: Der Tessiner soll den Titel eines Staatssekretärs erhalten und neben Pascale Baeriswyl als Delegierter des Bundesrats die Verhandlungen der Schweiz mit der EU koordinieren. In der öffentlichen Leseart kommt dies einer Entmachtung der Sozialdemokratin Baeriswyl gleich.
Es gibt aber auch eine andere Interpretation. Cassis wird morgen dem Bundesrat wohl vorschlagen, Verhandlungen mit der EU zu führen, die über die institutionellen Fragen hinausgehen. Verschiedene Medien schrieben von einem neuen Paket «Bilaterale III». Stimmt die Regierung umfassenden Verhandlungen zu, ist auch klar, dass sich die höchste Diplomatin nicht selbst an den Verhandlungstisch setzen wird, weil die Doppelrolle kaum zu bewältigen wäre. Bereits bei den Bilateralen II verhandelte nicht der EDA-Staatssekretär Franz von Däniken, sondern Michael Ambühl, der dannzumal das Integrationsbüro leitete, die Vorgängerorganisation der DEA. Mit anderen Worten: Balzarettis Ernennung könnte auch eine Rückkehr zum Courant normal sein.
Balzaretti scheint für die Rolle des Monsieur Europa prädestiniert: Er war zwischen 2012 und 2016 Chef der Schweizer Mission in Brüssel. Kennt also das EU-Innenleben aus erster Hand. Zuvor war er Kabinettschef und Generalsekretär von Micheline Calmy-Rey - Balzaretti galt als graue Eminenz im Aussendepartement.
Die «Weltwoche» verglich den fünffachen Familienvater einst mit Robert De Niro in seinen besten Tagen. Er sieht sich selbst jedoch eher als Bruce Willis, den Actionhelden, bekannt für seine Überlebensgabe, mit der er sich fluchend durch Explosionen, Schiessereien und wilde Verfolgungsjagden kämpft. Der Doktor der Rechte gehört zu den Diplomaten der kommunikativen und offenen Sorte. Calmy-Rey verglich er einmal mit einem Auto: «Sie ist ein Sportauto der 70er-Jahre, als noch Leidenschaft und nicht standardisierte Produktionsprozesse massgeblich waren.»
Dass Bundesrat Cassis Tessiner Funktionäre in hohe Posten hievt, wird von ihm erwartet. Die neue Position Balzarettis steht aber auch sinnbildlich für Cassis’ Mantra: Aussenpolitik ist Innenpolitik. Die grössten EU-Skeptiker leben in der Südschweiz. Dass nun einer der ihren, aufgewachsen in Ligorette, nur einen halben Kilometer von der italienischen Grenze entfernt, das Verständnis für die Schweizer EU-Politik auch im Tessin erhöhen soll, macht Sinn.
Parlamentarier reagieren unterschiedlich auf die Personalie Balzaretti und auf die Frage, ob es tatsächlich einen neuen Staatssekretär für Europa braucht. Einigkeit herrscht aber in einem Punkt: «Eine personelle Änderung bedeutet nicht automatisch einen Durchbruch mit Brüssel», sagt FDP-Nationalrätin Christa Markwalder. «Wir brauchen eine klare Position und keine neuen Strukturen», sagt SP-Nationalrat Carlo Sommaruga. Und Elisabeth Schneider-Schneiter (CVP/BL) macht klar: «Mich interessiert nicht, wie Cassis das Aussendepartement organisiert. Wichtig ist, dass sich der Bundesrat auf eine Linie in der Europapolitik einigt.»