Künftig sollen arbeitslos gewordene Grenzgänger nicht mehr von ihrem Wohnstaat unterstützt werden. Sondern dort, wo sie zuletzt Beiträge ins Sozialversicherungssystem eingezahlt haben. Auf dieses Prinzip haben sich die EU-Staaten auf Botschafter-Ebene letzte Woche verständigt. Wenn die Schweiz die Anpassung übernimmt, könnten so wegen der rund 320'000 Grenzgänger Kosten von mehreren hundert Millionen Franken entstehen.
Das Dossier soll den zuständigen EU-Ministern bei ihrem Treffen am 21. Juni in Luxemburg vorgelegt werden. Dass diese nochmals eine Kehrtwende machen, ist unwahrscheinlich. Es gebe eine «stabile Mehrheit» für den Systemwechsel, heisst es aus Diplomatenkreisen. Offen sind aber noch Detailfragen, die durchaus politischen Zündstoff bergen. Zum Beispiel, wie lange ein Grenzgänger im Gastland gearbeitet haben muss, um sein Recht geltend zu machen.
Der Vorschlag der EU-Kommission ging von 12 Monaten aus. Etliche Staaten, darunter Frankreich, möchten eher 9 oder 6 Monate. Kritiker befürchten, dass dadurch Anreize für Missbrauch gesetzt werden. So könnte zum Beispiel jemand in einem reicheren EU-Land kurzzeitig eine Stelle übernehmen, um nachher von den grosszügigeren Sozialleistungen zu profitieren.
Eine andere Frage stellt sich bei den Kontrollmöglichkeiten. Länder, deren Behörden die Erwerbslosen traditionell eng begleiten und etwa zu Weiterbildungskursen und Vorstellungsgesprächen aufbieten, fragen sich, wie solche Verpflichtungen grenzüberschreitend durchgesetzt werden können. Dazu gehört Luxemburg, wo rund 40 Prozent der Arbeitnehmer aus dem Ausland stammen und ein grosser Teil täglich über die Grenze pendelt. Arbeitsminister Nicolas Schmit hat sich deshalb in der Öffentlichkeit mehrmals gegen die Anpassung ausgesprochen. Nun setzt sich das Grossherzogtum dem Vernehmen nach für eine Übergangsfrist von sieben Jahren ein.
Ein Wort mitzureden hat noch das EU-Parlament. Dort kommt es wahrscheinlich im September oder Oktober zur Abstimmung. Der französische Sozialdemokrat Guillaume Balas, der für das Parlament mit EU-Kommission und den Mitgliedstaaten verhandelt, schlägt vor, die Angelegenheit durch die Augen der betroffenen Arbeitnehmer zu betrachten. Balas: «Wir müssen uns fragen, was die praktikabelste Lösung ist, die dem Einzelnen keine zusätzlichen administrativen Bürden auferlegt.» Eine Option könnte sein, das Arbeitsamt im Wohnstaat für zuständig zu erklären, während die Arbeitslosenentschädigung vom Staat der letzten Aktivität ausgerichtet wird.
Ob die Schweiz das Reglement aus dem Anhang des Freizügigkeitsabkommens aktualisieren wird, ist unklar. Verpflichtet dazu ist sie prinzipiell nicht. Wenn Bern aber mit der EU das institutionelle Rahmenabkommen abschliesst, käme man im Zuge der dynamischen Rechtsübernahme um eine Anpassung kaum herum. Auch mit den Nachbarländern droht Krach, wenn die Schweiz nicht nachziehen würde. Nichtsdestotrotz hat Aussenminister Ignazio Cassis im Februar im Bereich Sozialversicherungen «neue rote Linien» angekündigt. Das sorgt in Brüssel für Stirnrunzeln. Man erachte es als eigenartig, Ausnahmen von einem Gesetz zu fordern, das noch gar nicht bestehe. Darüber hinaus würde ein solches Vorgehen exakt der Logik des Rosinen-Pickens entsprechen, von der man sich endgültig verabschieden wolle.
Schon heute exportiert die Schweiz Arbeitslosenleistungen für Grenzgänger. Dabei wird den EU-Staaten während dreier Monate die effektiv geleistete Arbeitslosenentschädigung kompensiert. Fünf Monate sind es, wenn der Grenzgänger mehr als ein Jahr in der Schweiz gearbeitet hat. Insgesamt wurden so im vergangenen Jahr rund 242 Millionen Franken an die EU-Nachbarländer ausbezahlt. Die französische Arbeitslosenkasse kritisiert allerdings, sie müsse für arbeitslose Grenzgänger mehrere hundert Millionen Euro mehr ausgeben, als sie von der Schweiz erhalte.