Die Nationalratswahl 2019 ging als grosse «Frauenwahl» in die Schweizer Geschichte ein: An jenem Sonntag im Oktober entschied sich die Stimmbevölkerung, 84 weibliche Volksvertreter in die grosse Parlamentskammer zu wählen. Berücksichtigt man die Rücktritte und Nachrückerinnen, die seither erfolgten, zählen wir heute 86 Frauen im Nationalrat. Historisch gesehen ist das ein absoluter Rekord – er kam jedoch angesichts des grossen Frauenstreiks mit Ankündigung.
Diese geschichtsträchtige Frauenwahl blieb aber nicht ohne Folgen: Die Forderungen des Streiks wurden ins Parlament getragen und sorgen regelmässig für Schlagzeilen. So erst gerade diese Woche, als die «Neue Zürcher Zeitung» über einen Vorstoss zur Bestrafung von Geschlechter-Diskriminierung berichtete. Darin liest man, dass eine Gruppe von Politikerinnen von der SP bis zur FDP für die Anpassung einer Strafnorm kämpft, mit der heute Rassismus oder Homophobie verfolgt werden kann.
Der Vorstoss ist eine Reaktion auf Fans des FC Schaffhausen, die mit einem frauenverachtenden und zugleich gewaltverherrlichenden Banners («Winti-Fraue figgä und verhaue») auf sich aufmerksam machten. Frauen aus allen Parteien – mit Ausnahme der SVP – entschieden sich darauf, etwas dagegen machen zu wollen.
Diese Überparteilichkeit konnte in der aktuellen Legislatur des Parlaments oft beobachtet werden. Und sie beschert feministischen Anliegen, die vor Jahren wohl noch als «linke Forderungen» abgekanzelt worden wären, unerwarteten Erfolg: So entschied sich das Parlament im letzten Monat für eine Gesetzeskorrektur, um Ausländerinnen nach häuslicher Gewalt besser schützen zu können.
Und auch bei den Steuern sieht es so aus, als könnten sich verheiratete Frauen bald emanzipieren. Das politische Schlagwort hier heisst «Individualbesteuerung»: Sie wird seit Jahrzehnten gefordert und sollte bis nächstes Jahr in Griffnähe kommen – entweder auf parlamentarischem Weg oder via Volksinitiative.
Solche konkreten Verbesserungen werden von reichhaltiger Symbolik flankiert: Die Schweiz hat mit Viola Amherd die erste Verteidigungsministerin, seit Jahresbeginn sind zudem alle eidgenössischen «Schattenministerien» (sogenannte Staatssekretariate) in Frauenhand. Noch vor 40 Jahren wurden solche Szenarien belächelt: Die Schweiz gestattete erst 1982 weiblichen Politikerinnen sich «Nationalrätin» zu nennen. Die Bundesverfassung spricht zudem erst seit 1999 ausdrücklich auch von Frauen – davor waren sie mal «mitgemeint» oder eben nicht, was zum bekannten jahrzehntelangen Streit über das Frauenstimmrecht im Kanton Appenzell Innerrhoden führte.
Davon können aber Frauen nicht immer und überall profitieren. Ein Blick in die kantonalen Daten zeigt, dass gleich in sieben Regierungsräten keine einzige Frau vertreten ist. Das muss sich nicht zwingend auch in der politischen Arbeit auswirken: Auch Männer können sich für Frauenrechte einsetzen.
Die fehlende Vertretung wirft aber grundsätzliche Fragen auf. So sagte Barbara Janom Steiner, die letzte weibliche Bündner Regierungsrätin, in einem «Blick»-Interview: «Wir brauchen die Frauen dringend auf allen Ebenen der Politik, denn Frauen haben eine etwas andere Sensibilität und Art ein Thema anzugehen.»
Janom Steiner erfuhr in ihrer jahrelangen Amtszeit als Parteipräsidentin der SVP Graubünden, warum es weniger Frauen in der Politik gibt: Es habe nicht immer damit zu tun, dass jemand nicht will – gerade Frauen hätten viele Gründe, die eine Politkarriere schlicht erschweren.
Neben den Herausforderungen «als Mutter, als Pflegeperson für die Eltern, als Berufsfrau oder auch in der Freiwilligenarbeit», käme auch die andere Tonalität gegenüber Frauen hinzu: «Persönliche Anfeindungen und Angriffe häufen sich, die Hemmschwelle ist auch durch die sozialen Medien tiefer geworden. Man muss viel einstecken. Viele Frauen sagen mir, dass sie schlicht keine Lust haben, sich dem auszusetzen.»
Doch auch wenn eine Frau kann und möchte, darf sie nicht immer. Das zeigt der Blick zurück ins Bundeshaus: Frauen sind zwar mit 43 Prozent aller Nationalratssitze historisch gut vertreten – man muss sie aber bei politisch wichtigen Schlüsselposten suchen.
Die Rede ist von den Präsidien der sogenannten «Sachkommissionen», wo die eigentliche Politik hinter verschlossenen Türen stattfindet. Von ihnen gibt es im Ständerat und Nationalrat je acht Stück: Sie werden mit zwei Ausnahmen alle von Männern präsidiert.
Die Berner FDP-Nationalrätin Christa Markwalder ist eine der beiden Frauen und Chefin der Rechtskommission. Im Gespräch mit watson begründet sie das Untervertretung der Frauen in den Präsidien mit dem «Anciennitätsprinzip»: Früher sei es so gewesen, dass langjährige und verdiente Politikerinnen und Politiker ein Kommissionspräsidium übernehmen durften. Das sei dann halt öfters ein Mann gewesen, weil es auch mehr Männer gab. «Dieses Prinzip hat sich aber überlebt. Inzwischen erhalten auch neu gewählte Politiker oder eben auch Politikerinnen in der ersten Legislatur die Chance, ein solches Amt zu übernehmen.»
Sie zeigt sich deshalb auch überrascht, als sie von ihrer Besonderheit erfährt. «Das war mir nicht bewusst. Ich finde das Amt der Kommissionspräsidentin sehr spannend und habe keine Sekunde gezögert, als ich von meiner Fraktion dafür angefragt wurde», sagt Markwalder.
Den einzigen Nachteil des Postens sehe sie darin, dass man sich gemäss parlamentarischen Gepflogenheiten mit politischen Voten und Anträgen in der Kommission zurückhalten müsse. Sprich: Wer nicht Kommissionspräsidentin sei, könne sich besser mit Anträgen und Voten im Parlamentsbetrieb profilieren.
Das Beispiel der Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran verdeutlicht diesen Vorteil: Die Wirtschaftspolitikerin orchestrierte zusammen mit FDP- und CVP-Politikern zu Beginn der Pandemie beinahe erfolgreich das Geschäftsmietengesetz – bevor es überraschend scheiterte. Einen solchen Coup hätte es vermutlich bei einer Kommissionspräsidentin Badran nicht gegeben.
Schaut euch mal unsere Politiker an? Wurden da wirklich nur Leute gewählt die vor allem durch ihre Kompetenz hervorstechen? Nein, da spielen andere Faktoren für uns Menschen eine viel grössere Rolle.