Sozialarbeiterin über Häusliche Gewalt: «Die meisten Täter sehen sich als Opfer»
Frau Wyss, an welchem Punkt wird ein Streit in einer Beziehung aus fachlicher Sicht zu häuslicher Gewalt?
Claudia Wyss: Das ist tatsächlich sehr schwierig abzugrenzen. Häusliche Gewalt ist hochkomplex. Konflikte in einer Beziehung sind grundsätzlich nichts Schlechtes. Entscheidend ist die Art und Weise, wie diese Konflikte ausgetragen werden. In den meisten Fällen beginnt häusliche Gewalt schleichend – mit psychischer Gewalt.
Was muss man sich unter psychischer Gewalt vorstellen?
Dazu gehört vieles: Beleidigungen, gezielt verletzende Witze, verbale Abwertung. Wenn man jemandem das Gefühl gibt, dumm zu sein, nichts zu können, nichts zu wissen, ihn kleinmacht. Manipulation gehört auch dazu, beispielsweise Gaslighting. Dabei greift man gezielt die Wahrnehmung des anderen so an, dass dieser das Vertrauen in die eigenen Erinnerungen und das eigene Erleben verliert. Das ist das Schwierige an psychischer Gewalt: Sie ist extrem schwer fassbar. Die Betroffenen können kaum in Worte fassen, wie ihnen geschieht.
Was würden Sie potenziellen Opfern von häuslicher Gewalt raten? Gibt es erste Alarmzeichen, auf die sie achten können?
Wo Gaslighting geschieht, fallen häufig Sätze wie: «Du bist überempfindlich», «Das ist so nie passiert», «Das bildest du dir nur ein». Auf solche Sätze sollte man achten. Wenn ich mit Gewaltbetroffenen spreche, sagen aber viele, dass sie schon früh ein schlechtes Bauchgefühl hatten. Deshalb ist mein Tipp: Vertraut auf euer Bauchgefühl und schreibt Vorfälle für euch auf!
Was nützt das?
Die Notizen können helfen, das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zu behalten. Ein klares Alarmzeichen ist es auch, wenn man sich in der Beziehung immer kleiner fühlt. Die besondere Herausforderung bei häuslicher Gewalt ist aber auch, dass selbst scheinbar harmlose Verhaltensweisen Gewalt sein können, wenn ein Muster dahintersteckt. Sehr häufig sind das Handlungen, mit denen man das Patriarchat zementiert.
Zum Beispiel?
Etwa wenn der Partner, der das Geld verdient, jede Ausgabe der Partnerin kontrolliert oder sie mit Sätzen wie «Die Wohnung ist nie sauber» oder «Was machst du eigentlich den ganzen Tag?» ständig abwertet. Aber auch Frauen können patriarchale Erwartungen nutzen, um Gewalt auszuüben – etwa indem sie ihrem Partner vorwerfen, seiner Rolle als Ernährer nicht gerecht zu werden. Solche Mechanismen schaffen Abhängigkeit, erzeugen Angst und halten ungleiche Geschlechterrollen aufrecht.
Wer das jetzt liest und sich denkt: «Oha, so etwas habe ich auch schon mal in der Wut gesagt oder gemacht. Bin ich jetzt auch ein Täter?» – was würden Sie dieser Person sagen?
Ein einzelner verletzender Satz in einem Streit macht niemanden automatisch zum Täter. Entscheidend ist, ob solche Verhaltensweisen ein Muster bilden – also ob Kontrolle, Abwertung oder Einschüchterung wiederholt und gezielt eingesetzt werden. Wer merkt, dass er in der Wut Grenzen überschritten hat, zeigt Verantwortung, wenn er das reflektiert, sich dafür entschuldigt und an seinem Verhalten arbeitet. Gewalt beginnt dort, wo jemand bewusst Macht nutzt, um den anderen kleinzuhalten – nicht bei einem einmaligen Fehlverhalten.
Was haben alle Täter gemeinsam?
Gegen aussen wirken viele Täter «normal». Aber alle zeigen ein Muster: Sie üben bewusst Macht und Kontrolle aus, missachten Grenzen, schieben Verantwortung ab und rechtfertigen ihr Verhalten. Die meisten Täter sehen sich selbst als Opfer. Ihre Ausreden klingen oft ähnlich: «Wenn sie mich nicht provoziert hätte, hätte ich nicht so reagieren müssen.»
Wie reagieren Sie auf diese Ausreden?
Ich sage den Gewaltausübenden klar: Das Opfer trägt keine Verantwortung für Gewalt. Wer verletzt, bedroht, manipuliert oder kontrolliert, ist dafür allein verantwortlich. Daran ändern auch Ausreden nichts.
In unserer Serie haben wir mit einem Mann gesprochen, der Gewalt durch seine Ehefrau erlebt hat. Unterscheidet sich häusliche Gewalt, die von Frauen ausgeht, von jener, die von Männern ausgeht?
Männer üben deutlich häufiger körperliche Gewalt aus, während Frauen öfter psychische Gewalt einsetzen. Das Ziel ist aber dasselbe: Macht und Kontrolle über den Partner.
Opfer von häuslicher Gewalt werden häufig gefragt: «Warum bist du nicht einfach gegangen?» Was ist Ihre Antwort darauf?
Dass «gehen» nicht einfach ist. Selbst eine gesunde Beziehung zu beenden, ist schwer. Nun muss man sich vorstellen, dass dazu noch zahlreiche erschwerende Umstände kommen: finanzielle Abhängigkeit vom Partner, fehlendes soziales Umfeld, vielleicht mangelnde Sprachkenntnisse, Krankheit, Angst. Man darf zudem nicht unterschätzen, wie sehr die erlebte Gewalt die eigene Handlungsfähigkeit einschränkt.
Inwiefern schränkt Gewalt die Handlungsfähigkeit ein?
Wenn es uns gut geht, wenn unsere Psyche und der Körper gesund sind, dann ist es einfacher, klar und strategisch zu denken, um etwa einen Fluchtplan zu schmieden. Wer sich jedoch jeden Tag im Überlebensmodus befindet, kann nicht mehr klar denken. Es ist meistens nicht so, dass die Betroffenen nicht gehen wollen. Sie können nicht, weil sie durch die Gewalt psychisch und physisch komplett am Anschlag sind. Sie haben manchmal nicht einmal die Kraft, einen Anruf zu tätigen. Aufgrund der psychischen Gewalt haben viele zudem den Glauben in ihre eigenen Fähigkeiten verloren. Den Glauben daran, der Gewalt tatsächlich entkommen zu können. Viele haben Angst, dass ihnen ihr Umfeld nicht glauben wird oder sie zweifeln daran, ob das, was sie erleben, wirklich häusliche Gewalt ist.
Betroffene Männer können sich an die Anlaufstelle Zwüschehalt oder an das Männerbüro Zürich wenden.
Bei Straftaten im Ausland können Schweizer Staatsangehörige die Helpline des EDA kontaktieren: +41 800 24 7 365.
Von Bürgerlichen hört man öfters, dass häusliche Gewalt ein «Ausländerproblem» sei. Stimmt das?
Nein, häusliche Gewalt ist kein «Ausländerproblem». Sie kommt in allen Gesellschaftsschichten vor. Aber es gibt verschiedene Risikofaktoren, die es wahrscheinlicher machen, dass jemand Gewalt ausüben wird. Etwa eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit, psychische Erkrankungen, Suchtprobleme, finanzielle Belastungen, gesellschaftliche oder kulturelle Normen, die Gewalt tolerieren. Menschen aus der Mittel- und Oberschicht haben oft eher die Möglichkeit, sich therapeutische Unterstützung zu holen. Aber: Niemand ist automatisch geschützt. Selbst Fachpersonen können Opfer häuslicher Gewalt werden.
Kulturell erlernte Besitzansprüche gegenüber Frauen stellen viele in Verbindung mit Männern aus anderen Kulturkreisen als der Schweiz. Existieren diese Besitzansprüche auch unter Schweizern?
Absolut. Die Schweiz rühmt sich gerne als fortschrittlich, aber das sind wir bei weitem noch nicht. Das zeigt sich bei einem Blick in unsere Gesetzgebung. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 2004 ein Offizialdelikt, das heisst eine Straftat, die von Amtes wegen verfolgt wird. Erst seit letztem Jahr gilt es gesetzlich auch als Vergewaltigung, wenn sich das Opfer nicht verbal oder physisch gewehrt hat. Erst in diesem Jahr hat man entschieden, dass Stalking – was besonders im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt vorkommt – einen eigenen Straftatbestand erhält. Patriarchale Strukturen sind in unserer Gesellschaft nach wie vor tief verankert.
Auf Ihrer Fachstelle arbeiten Sie mit Opfern und Tätern zusammen. Wie funktioniert das?
Wir werden automatisch von der Polizei informiert, wenn es zu einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt gekommen ist. Daraufhin suchen wir aktiv den Kontakt zur gewaltbetroffenen und gewaltausübenden Person und versuchen eine Vertrauensbasis aufzubauen. Ohne Druck zu machen, dass sie die Situation verlassen müssen.
Und wo beginnt die Täterarbeit?
Die gewaltausübende Person versuchen wir für eine Gewaltberatung oder ein Lernprogramm zu motivieren. Teilweise werden Gewaltausübende aber auch von der Staatsanwaltschaft oder dem Familiengericht dazu verpflichtet, an Täterprogrammen teilzunehmen. In beiden Fällen versuchen wir zusammen mit dem Paar zu verstehen, welches Muster hinter der Gewalt liegt. Anschliessend erarbeiten wir, wie die gewaltausübende Person diese Muster durchbrechen kann, damit sie zukünftig nicht mehr Gewalt ausübt.
Wie erfolgreich ist dieser Ansatz?
Das Lernprogramm in Zürich, nach welchem wir arbeiten, wurde bereits evaluiert und als erfolgreich bewertet. Wichtig zu bedenken ist jedoch, dass sich die Art der Gewalt verändern kann: Vielleicht übt jemand keine körperliche Gewalt mehr aus, dafür aber psychische. Deshalb ist es in der Arbeit mit beiden Parteien besonders wichtig, ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen, damit Betroffene sich im Falle eines erneuten Vorfalls frühzeitig bei uns melden.
Das klingt, als wäre Täterarbeit ein Tropfen auf den heissen Stein.
Nein, das ist sie definitiv nicht. Um gegen häusliche Gewalt vorzugehen, braucht es drei Säulen: Unterstützung und Schutz für Gewaltbetroffene, Prävention und Täterarbeit. Die ersten beiden Säulen nützen nichts, wenn wir die Täter nicht in die Verantwortung nehmen. Dann schützen wir zwar die eine Frau, aber nicht die nächste, die auf die gewaltausübende Person trifft.
Was halten Sie vom System in Spanien? Männer, die in der Vergangenheit gegenüber ihrer Partnerin oder Ex-Partnerin gewalttätig geworden sind, werden präventiv mit einer Fussfessel ausgestattet. Nähern sie sich der Frau widerrechtlich, wird diese automatisch informiert. Spanien hat die Anzahl Femizide so stark dezimieren können.
Das spanische System wäre in der Schweiz aktuell nicht umsetzbar. Jeder Kanton ist selbst verantwortlich für den Schutz von Opfern von häuslicher Gewalt. Würde der Bund vorgeben, dass ein Fussfesselsystem eingeführt werden müsste, würde dies jeder Kanton anders umsetzen. Und was passiert dann mit einem Täter, sobald er über die Kantonsgrenze geht? Das wäre unklar. Und genau das ist das Problem, wenn die Schweiz keine nationale Strategie gegen häusliche Gewalt hat. Während manche Kantone Täterprogramme, Opferhilfen und geschultes Polizeipersonal vorweisen können, haben andere noch nicht einmal ein Frauen- oder Männerhaus. Das kann nicht sein. Gewalt hört nicht an der Kantonsgrenze auf.
Der Bund hat diesen Monat erstmals eine nationale Kampagne gegen häusliche Gewalt gestartet. Was halten Sie davon?
Das ist ein wichtiger Schritt, aber es ist noch lange nicht genug. Ich vergleiche das jeweils mit vor etwa 30 Jahren, als die Schweiz sehr viele Verkehrstote verzeichnete. Damals hat man sich auf Bundesebene entschieden, dagegen vorzugehen. Man hat in neue Gesetze, in Präventionskampagnen, in Technologie investiert. Mit dem Ergebnis, dass die Anzahl Verkehrstote massiv gesenkt werden konnte. Der Wille war da, die Situation zu verbessern.
Bei häuslicher Gewalt scheint der politische Wille also nicht da zu sein?
Offenbar nicht. Obwohl sich die Schweiz mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention 2018 verpflichtet hat, Frauen vor häuslicher und sexualisierter Gewalt zu schützen, reicht das bisherige Engagement nicht aus. Es braucht deutlich mehr Ressourcen: für Frauenhäuser, für professionelle Fachstellen, für die Arbeit mit Tätern und für Präventionsprogramme, die idealerweise bereits in der Schule beginnen. Vor allem aber benötigen wir eine nationale Strategie gegen häusliche Gewalt.
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