Am Tag vor ihrem Tod hatte Jennifer McLaughlin einen letzten Wunsch. Die Öffentlichkeit solle erfahren, was sie in der Schweiz erlebt hat. Deshalb setzte sie sich vor eine Kamera. Sie begann mit den Worten: «Ich bin Jennifer aus Alabama, USA, und das ist meine kleine Geschichte.» Sie sprach 36 Minuten lang. Ihre Botschaft hatte ein Ziel: andere Sterbewillige zu warnen.
Jennifer McLaughlin hätte am 17. Juli 2024, an ihrem 55. Geburtstag, in der Nähe einer Waldhütte im Kanton Schaffhausen sterben wollen. Als erster Mensch in der Suizidkapsel Sarco. Sie hätte sich in den futuristischen Plastiksarg gelegt, einen Knopf gedrückt, die Kapsel hätte sich mit Stickstoff gefüllt, die Frau wäre bewusstlos geworden und an Sauerstoffmangel gestorben. Mitten in der Natur für immer einzuschlafen – das war ihr Traum.
Daraus wurde ein Albtraum. Wenige Tage vor ihrem Sterbetermin eskalierte ein Konflikt zwischen ihr und der Organisation hinter dem Sarco, die sich The Last Resort nennt. Der letzte Ausweg. Es handelt sich um den Schweizer Ableger der australischen Freitodorganisation Exit International (die nichts mit Exit Deutsche Schweiz zu tun hat).
Der australische Arzt Philip Nitschke gründete die Organisation 1997. Er wohnt heute mit seiner Frau Fiona Stewart auf einem Hausboot in Haarlem bei Amsterdam. Sie ist Anwältin und Beirätin des Schweizer Vereins. Präsident ist Florian Willet, Wirtschaftsjurist und ehemaliger Sprecher von Dignitas Deutschland. Sie erklärten, dass sie den Sarco in Violett hätten designen lassen, weil die Farbe für Würde stehe.
Jennifer McLaughlins letzte Reise wurde würdelos. Die NZZ publizierte Vorwürfe von ihr im Juli unter einem Pseudonym. Gestützt auf die Videodokumentation und Zeugenaussagen kann die «Schweiz am Wochenende» die Geschichte nun umfassender rekonstruieren.
Der Sarco ist hauptsächlich für Sterbewillige eine Option, die im Ausland wohnen und ihre letzte Reise in die Schweiz antreten – ins einzige Land, in dem Suizidhilfe für Ausländer legal ist. Für Personen aus der Deutschschweiz ist in der Regel Exit Deutsche Schweiz die erste Wahl. Wer sich frühzeitig registriert und Geduld für ärztliche und psychiatrische Abklärungen mitbringt, erhält hier Suizidhilfe und kann den Hinterbliebenen auf dem Sterbebett die Hand halten. Doch Exit Deutsche Schweiz betreut keine Personen aus dem Ausland.
Andere, kleinere Schweizer Freitodorganisationen wie Dignitas nehmen diese zwar an, doch ihre Kapazitäten sind beschränkt. Zudem haben sie grössere Probleme, Ärzte und Psychiater für Gutachten zu finden. Der Sarco soll solche Probleme lösen: die Maschine soll den Suizid ohne ärztliche Hilfe möglich machen.
Auch Jennifer McLaughlin war von dieser Idee angetan, als sie einen Zeitungsartikel über den Sarco las. In die Videokamera sagte sie sogar: «Ich hatte so viel Liebe für diese Maschine.»
Die 55-Jährige war schwer krank. Sie litt an Polyneuropathie, einer schmerzhaften Nervenkrankheit. Wegen Nierenproblemen wäre sie zudem auf Dialyse angewiesen. Die Medikamente machten sie massiv übergewichtig. In ihrem Leben sah sie nur noch einen Sinn: im Rollstuhl von Spezialistin zu Spezialist zu fahren.
Deshalb meldete sie sich im Juli 2023 bei Exit International an. Sie staunte, als sie erfuhr, dass sie als erste Kandidatin auserkoren wurde. Warum sie? Die Frage stellte sie immer wieder. Weil sie sich in den Medien gut artikulieren könne, habe die Antwort gelautet. Jennifer hatte in der Unternehmenskommunikation gearbeitet und war Redenschreiberin. «Das ist das Einzige, was ich kann», sagte sie im Video.
Am 22. Mai 2024 landete Jennifer McLaughlin auf dem Flughafen von Amsterdam. Nach der Ankunft organisierte Exit International ein erstes Interview mit einem Journalisten. Darauf war sie vorbereitet. Doch es folgte ein Medientermin nach dem nächsten.
Exit International hatte die Weltpresse eingeladen, auf Jennifers letzter Reise dabei zu sein. Die «Washington Post», CNN und die Agentur Associated Press. Jennifer war zwar bereit, an der Dokumentation des ersten Sarco-Einsatzes mitzuwirken, der Medienrummel wurde ihr aber zu gross.
Jennifer erzählte im Video: «Ich habe Fiona immer und immer wieder davon erzählt, dass ich Zeit für mich alleine bräuchte, besonders angesichts meines bevorstehenden Todes.» Doch diese habe auf weiteren Medienterminen bestanden, auf noch einem und noch einem. Die Journalisten seien zwar freundlich gewesen und sie habe die Kontakte geschätzt, sagt die Amerikanerin. Aber die Medienbegleitungen seien regelmässig intensiver geworden als abgemacht.
Fiona Stewart habe ihr zudem Themen vorgegeben für Videos, die sie selber aufnehmen sollte: «Sie wollte, dass ich darüber spreche, warum Sarco für mich als Einzelkind ideal wäre. Denn da hätte ich nicht einen Fremden, mit dem ich Händchen halten müsste.» Sie sollte damit Kritik widerlegen. Doch sie habe nur sagen wollen, warum Sarco das Richtige für sie gewesen wäre.
Fiona Stewart sagte an einer Medienkonferenz in Zürich: «Wir wollen nicht, dass der Wunsch einer Person nach einem friedlichen Sterben in der Schweiz in einem Medienzirkus endet. Das wäre sehr unethisch.»
Jennifer McLaughlin sagte in ihrem Video: «Das könnte wirklich nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Der Medienzirkus wurde immer priorisiert und ich wurde immer kränker und schwächer. Ich fühlte mich zur Ware gemacht und als solche benutzt, ein blosses Mittel zum Zweck.» Sie habe sich kommerziell ausgenutzt gefühlt. Nicht nur medial, sondern auch finanziell.
Jennifer McLaughlin verkaufte vor ihrem Abflug in Alabama alles, was sie hatte, und kam mit 40'000 Dollar auf dem Konto in die Schweiz. Am Schluss hatte sie alles ausgegeben: für ihre eigene Reise, aber auch für Spesen der Last-Resort-Verantwortlichen.
Ein Betreuer, der sie begleitete, bestätigt dies: Tom Curran, ehemaliger Direktor von Exit International, der die Organisation im Streit verlassen hat. Er macht folgende Zeugenaussage: «Jennifer übergab Fiona regelmässig Bargeld von Geldautomaten. Und sie überliess ihr ihre Kreditkarte mit Pin-Code.» Damit habe sie die Reise des Teams mitfinanziert. Eigentlich habe sie den Rest ihres Ersparten spenden wollen für Sterbewillige, die zu wenig Geld für eine Reise mit Exit International hätten.
Gemäss The Last Resort müssen die Patienten nur 18 Franken für die Kosten des Stickstoffs bezahlten. Doch Jennifer McLaughlin sagte, sie habe dafür eine Rechnung von über 100 Dollar erhalten. Hinzu kommen jeweils Kosten für die Bürokratie des Todes: Gutachten und Abklärungen.
Jennifer McLaughlin störte sich daran, wie sie von The Last Resort behandelt wurde, aber sie wehrte sich wochenlang nicht dagegen, weil sie ihren Suizid nicht gefährden wollte. Die Kritik äusserte sie erst nach dem Abbruch der Kontakte. Gegenüber Stewart und Willet zeigte sie sich in persönlichen Nachrichten dankbar für die Unterstützung. Mit dieser Kommunikation stellt die Organisation sie als Lügnerin dar.
Die Wahrheit ist komplizierter. Der Konflikt zeigt, wie heikel der Sterbetourismus sein kann und wie es dabei zu fatalen Missverständnissen kommen kann.
Zum Bruch kam es erst, als ein Reporter Jennifer McLaughlin einen Artikel aus der «Daily Mail» schickte. Darin stand, dass alle Involvierten des ersten Sarco-Einsatzes mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen müssten; explizit auch im Kanton Schaffhausen, wo sie sterben sollte. Als sie Fiona Stewart zur Rede stellte, soll diese geantwortet haben, dass in den Zeitungen nur Lügen stünden.
Stewart gab an, sie habe ihre Patientin schützen wollen und deshalb nicht über die rechtlichen Probleme informiert. Alle eingebetteten Journalisten mussten versprechen, dass sie erst nach dem Tod darüber berichten würden. Die Medien hätten einen friedlichen Suizid inszenieren sollen. Doch die NZZ machte die Pläne frühzeitig publik, worauf die Staatsanwaltschaften mehrerer Kantone rechtliche Schritte ankündigten.
Dass The Last Resort Jennifer darüber nicht informierte, brachte für sie das Fass zum Überlaufen. Deshalb sei sie ausgestiegen. Als Philip Nitschke realisierte, dass sie nicht mitmachen werde, schrieb er ihrem Begleiter Tom Curran, der damals kurzfristig für Exit International einsprang, folgende Kurznachricht: «You need to leave her AND get out of Zermatt asap». Lass sie zurück, und verschwinde so schnell wie möglich aus Zermatt.
Öffentlich kommunizierten The Last Resort und Exit International anders. Sie publizierten eine Vermisstmeldung und gaben an, dass sie das Vorhaben wegen psychischer Probleme der Sterbekandidatin abgebrochen hätten.
Tom Curran folgte der Anweisung nicht, sondern wechselte die Seiten. Er hielt zu Jennifer und half ihr, eine andere Freitodorganisation in der Schweiz zu finden. Das gelang ihm. Am 26. Juli 2024 starb sie durch eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital. Das ist der übliche Weg in der Schweiz.
Die Staatsanwaltschaft Baselland, die den Fall untersucht hat, teilt auf Anfrage mit: «Die erwähnte Person ist mit der Hilfe einer in unserem Kanton tätigen Sterbehilfeorganisation freiwillig aus dem Leben geschieden.» Die Behörden hätten keine Hinweise auf eine Straftat gefunden. Und: «Die Urteilsfähigkeit wird bei diesen Abklärungen immer überprüft.»
Ein Psychiater hatte sie zwei Tage vor ihrem Tod in einem Hotel besucht und danach in einem Bericht festgehalten: «Frau McLaughlin präsentiert sich bei klarem Verstand. Sie ist glaubwürdig in ihrer Person und ihrem Wunsch nach Freitodbegleitung, welchen sie selbstständig gefasst hat.»
Ihren letzten Videoauftritt beendete Jennifer McLaughlin mit einer Warnung. Sie blickte dabei wieder in die Kamera und richtete sich an ihr Publikum: «Die Entscheidung, sein Leben freiwillig zu beenden, ist eine der tiefgreifendsten Entscheidungen, die Sie jemals treffen könnten. Bitte riskieren Sie nicht, in dieses Netz aus Lügen, Betrug, Verrat, Ausbeutung und Erschöpfung zu geraten, mit Exit International und The Last Resort. Dies könnte und würde höchstwahrscheinlich zu immensem Leid auf Ihrer letzten Reise führen.»
Aus der Planung von Jennifers McLaughlins Tod in Schaffhausen geht hervor, dass die Aktivisten den Ort aus einem ganz bestimmten Grund gewählt haben: wegen der Grenznähe. So kann sich ein Teil des Teams nach den Vorbereitungen rasch über die Grenze in Sicherheit bringen.
Eine Fotodokumentation einer niederländischen Fotografin zeigt, wie The Last Resort und Exit International vorgingen, als sie den Sarco am 23. September 2024 zum ersten Mal einsetzten. In einem weissen Lieferwagen brachten sie die Maschine in den Wald bei Schaffhausen und tarnten sie mit grünen Blachen. Dann enthüllten Florian Willet und Philip Nitschke das Gerät.
Ein weiteres Bild dokumentiert, wie Philip Nitschke den Deckel öffnete und die Todesmaschine zeigte. Davor stand Ann, so nennt The Last Resort die erste Frau, die im Sarco gestorben ist. Sie sei 64 Jahre alt geworden, schwer krank und ebenfalls Amerikanerin.
Zufällig zur gleichen Zeit, 122 Kilometer Luftlinie entfernt, sprach Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider im Nationalrat zum Thema. Sie erklärte, dass ein Einsatz des Sarcos nicht rechtskonform wäre. Sie machte die Aussagen in der Sitzung um 14.30 Uhr. Im Schaffhauser Wald kam die Nachricht offenbar nicht an.
Nitschke floh über die nahe Grenze nach Deutschland, um sich vor der Strafverfolgung in Sicherheit zu bringen. Mit seiner Frau beobachtete er von dort den Sterbeprozess über eine Videokamera im Sarco sowie über einen Sauerstoff- und Herzfrequenzmesser.
Um 15.53 Uhr legte sich Ann in den Sarco und tippte einen Code ein. Eine Computerstimme stellte ihr ein paar Fragen. «Wenn Sie sterben wollen, drücken Sie diesen Knopf.» Das tat sie um 15.54 Uhr. Gemäss Nitschke verlor sie innerhalb von zwei Minuten das Bewusstsein und starb nach fünf Minuten. Er sagte zur niederländischen Zeitung «De Volkskrant»: «Wir sahen ruckartige, kleine Zuckungen der Muskeln in ihren Armen, aber wahrscheinlich war sie zu diesem Zeitpunkt bereits bewusstlos. Es sah genauso aus, wie wir es erwartet hatten.»
Danach meldeten die Freitodorganisationen den Todesfall der Staatsanwaltschaft. Diese rückte mit einem Grossaufgebot aus und eröffnete ein Strafverfahren. Am Hauptsitz von Exit International in Haarlem liess die Schweiz über Rechtshilfe eine Hausdurchsuchung durchführen.
Florian Willet sitzt seither in Untersuchungshaft in Schaffhausen. Über seinen Anwalt lässt er ausrichten, dass er unschuldig sei. Es handelt sich um ein laufendes Verfahren. Derzeit ist unklar, ob der Einsatz des Sarcos in der Schweiz strafbar ist. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.
Exit International und The Last Resort weisen alle Vorwürfe zurück. Jennifer sei mit allen Medienterminen einverstanden gewesen und habe ihr Geld freiwillig ausgegeben. Es sei sogar umgekehrt gewesen: McLaughlin habe sie ausgenutzt und sei mit Schulden gestorben. Gemäss der NZZ konnten die Organisationen einige Aussagen McLaughlins mit Dokumenten widerlegen oder zumindest in Frage stellen.*
*(Anm. d. Redaktion: «Die Dokumente, die der NZZ von The Last Resort zur Verfügung gestellt worden seien, sind unter anderem Kontoauszüge zu Flug-, Hotel- und Mietauto-Reservationen über eine Reise nach Schottland, die The Last Resort selbst bezahlte. Zudem sollen Chat-Nachrichten zwischen der Organisation und [McLaughlin] vorliegen, die zeigen, dass [McLaughlin] von sich aus in einem Luxushotel übernachten wollte, obwohl man sie vor dem hohen Preis gewarnt hatte. Die Dokumente sollen auch zeigen, dass [McLaughlin] Rechnungen für eine Zugfahrt und Hotelübernachtungen in der Höhe von 1400 Franken nie bezahlt hatte.»)
Welche Aussagen sind denn konkret widerlegt? Man gibt doch nicht in einem Artikel erst inwidersprochen alle Aussagen wieder und schreibt dann am Ende pauschal, dass diese teilweise widerlegt seien, ohne dann weiter darauf einzugehen!
Es braucht diese gehypte Designermaschine gar nicht. Ein Glas und ein Medikament reichen aus.
Die Schweizer Organisationen haben mit jahrzehntelangen Einsatz geschafft, dass die Sterbehilfe politisch akzeptiert ist.
Ausländische Profitorganisationen braucht es hier nicht.