Eigentlich hätte SP-Präsident Christian Levrat am Donnerstag für seinen ältesten Sohn kochen sollen. Daraus wurde nichts. Dem Freiburger Ständerat und Vater dreier Kinder war es wichtiger, sich zur Gewalt an Frauen zu äussern. Wir trafen uns in Levrats Heimat Bulle, im Restaurant Hotel de Ville. Sein Sohn stiess später dazu – und so kam es doch noch zum gemeinsamen Mittagessen.
Herr Levrat, Gewalt an Frauen geht deutlich öfter von Ausländern als von Schweizern aus. Hat die SP ein Problem mit diesen Fakten?
Christian Levrat: Nein, es gibt effektiv eine Übervertretung der Ausländer. Die Frage ist jedoch, spielt die Nationalität wirklich eine Rolle oder soll man bei jenen Charakteristika ansetzen, die relevant sind?
Was meinen Sie damit?
Die relevanten Merkmale sind das Alter, das soziale Umfeld und die erlebten Gewaltepisoden in der Vergangenheit. Schaut man sich deren Einfluss an, fällt jenes der Nationalität weg.
Das Communiqué Ihrer Partei nach den brutalen Attacken auf Frauen in Genf und Zürich rückt etwas anderes ins Zentrum. «Es ist nicht die soziale Schicht, es ist nicht die Herkunft, es ist das Geschlecht. Und das ist männlich», steht darin.
In drei Vierteln der Fälle häuslicher Gewalt sind die Täter männlich. Beim Total der schweren Gewaltdelikte liegt der Männeranteil sogar bei 93 Prozent. Das heisst, dass es ein Problem ist, wie die Männer sozialisiert werden oder wie das Gleichstellungsverhältnis geregelt ist.
Die SP unternimmt alles, damit Ausländer nicht unter Generalverdacht geraten. Nun sind es die Männer.
Wir sagen ja nicht, alle Männer seien gewalttätig. Das wäre genauso falsch, wie alle Ausländer unter Generalverdacht zu stellen. Ich plädiere für Sachlichkeit in dieser Debatte. 1998 war ich Chef des Rechtsdiensts der Flüchtlingshilfe. Damals entbrannte die Diskussion über kriminelle Asylsuchende. Diese Diskussion haben wir erst in den Griff bekommen, als wir alle Statistiken auf den Tisch legten und diese auch studierten. Dasselbe wäre auch in der Debatte um Gewalt an Frauen dringend nötig.
Die Statistik zeigt eben deutlich: Ausländer werden häufiger gewalttätig. Worin liegt das Problem?
Dass man die Verantwortung abschiebt, indem man so tut, als wäre Gewalt gegen Frauen ein importiertes Problem, was schlicht nicht stimmt. Und dass es etwa bei der häuslichen Gewalt eine Dunkelziffer von rund 80 Prozent gibt. In diesem Bereich kommt es zu nur ganz selten zu Verurteilungen und die grosse Mehrheit der Delikte gelangt gar nie zur Anzeige. Verlässliche Daten würden eine akzeptable Debatte ermöglichen. Ich bin geradezu schockiert, wie diese in den letzten beiden Wochen verlief.
Inwiefern?
Schauen Sie sich die Chronologie an: Den Beginn markiert diese Prügelattacke auf Frauen in Genf. Danach demonstrieren mutige Frauen in der gesamten Schweiz gegen die Gewalt an Frauen und versuchen, die Hintergründe zu diskutieren. Dann aber werden die Geschehnisse in Richtung einer Ausländerdebatte gelenkt, das Ganze gipfelt in einer Hetzkampagne gegen die Juso-Chefin Tamara Funiciello. Sogar ihre Handynummer wird veröffentlicht (in einer Karikatur der «Schaffhauser Nachrichten», Anm. der Redaktion). Nun wird Tamara Funiciello massiv bedroht, was die Partei letztlich zu Massnahmen bewog, um ihre Sicherheit zu garantieren.
Braucht Frau Funiciello Polizeischutz?
Nein, sie steht aber in engem Kontakt mit der Polizei. Wir haben auch eine Anzeige eingereicht. Zu den Massnahmen will ich mich nicht weiter äussern.
Die Juso wollen ein allfälliges Referendum gegen den AHV-Steuer-Deal unterstützen. Haben Sie zu wenig aus dem Abstimmungserfolg bei der Unternehmenssteuerreform III gemacht?
Um etwas zu erreichen, brauchen wir Mehrheiten. Das Ergebnisist aus meiner Sicht klar positiv: Wir erhöhen die Dividendenbesteuerung auf Bundesebene, wir schliessen einige der Steuerschlupflöcher, die bei der USR III noch vorgesehen waren, und wir bekommen 2 Milliarden für die AHV.
Haben Sie ein Problem mit den Juso?
Nein, aber wir haben einen Meinungsunterschied in zwei zentralen Fragen. Auch in der Basis gibt es unterschiedliche Meinungen zum AHV-Steuer-Deal. Deshalb haben wir am 29. September eine ausserordentliche Delegiertenversammlung einberufen. Die Gegner der Vorlage klammern die Realität aus. Sie sind gegen den internationalen Steuerwettbewerb. Ich auch. Nur: Es gibt ihn nun einmal. Und die Vorlage führt klar zu einer Eindämmung. (dfu/dk)
Auslöser war eine Äusserung Funiciellos über den Popsong «079» des Berner Duos Lo und Leduc. In den Augen der Juso-Chefin ist der Songtext sexistisch. Erklären Sie uns bitte, inwiefern Sexismus zu Gewalt führt.
Zum Song äussere ich mich nicht, anhand der Angriffe auf Tamara Funiciello erkläre ich es aber gerne. Wir alle erhalten manchmal Drohungen. Bei Frauen wie Tamara Funiciello aber wird punkto Härte, Boshaftigkeit und Heftigkeit ein Ausmass erreicht, das nicht mehr akzeptabel ist. Es gibt innerhalb der Gesellschaft Gruppen, die Frauen als nicht gleichwertig betrachten. Alle Ungleichheiten, die wir dulden, nähren dieses Bild. Es geht dabei um Löhne oder Untervertretung in den Chefetagen. Auch wenn das nicht automatisch dazu führt, dass Frauen geschlagen werden, ist es doch der Rahmen, der so etwas ermöglicht.An den Gleichstellungsfragen müssen wir deshalb arbeiten.
Sie glauben, dass Machos in einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer ungleich behandelt werden, eher Gewalt gegen Frauen anwenden?
Das ist ein Faktor, bestimmt. Umgekehrt bin ich davon überzeugt, dass es in einer Gesellschaft mit Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu weniger Gewalt an Frauen kommt.
Noch einmal zum Inhalt des «079»-Songs: Wenn ein Mann ein Leben lang versucht, an die Nummer einer Frau zu kommen, und bei seinem Unterfangen schliesslich sogar stirbt, handelt es sich dabei um Stalking oder schlicht unglückliche Liebe?
Mein Punkt ist: Die einen betrachten das als sexistisch, andere nicht. Warum die eine Haltung einen derartigen Shitstorm auslösen muss, ist mir schleierhaft.
Sie meldeten sich bei uns und boten an, über das Thema zu sprechen. Bislang prägten Frauen die Debatte. Verhalten nicht gerade Sie sich machohaft, wenn Sie nach zwei Wochen Debatte nun ein paar Dinge klarstellen wollen? Können das Frauen nicht?
Ich habe mir diese Frage auch gestellt. Ich möchte tatsächlich ein paar Sachen klarstellen, aber in Bezug auf die üble Kampagne, die geführt wurde. Und vor allem möchte ich, dass sich auch Männer äussern. Wir dürfen nicht so tun, als betreffe uns die Gewalt an Frauen nicht. Bei einer so wichtigen Frage darf sich nicht die Hälfte der Bevölkerung der Debatte verweigern.
Sie sind schockiert über die Debatte. Die Wogen gingen doch hoch, weil sich die SP Frauen so schwer mit dem Ausländerthema taten.
Es mag sein, dass patriarchale Strukturen in gewissen ausländischen Milieus einen Einfluss haben. Ich möchte aber daran erinnern, dass die Schweiz ebenfalls lange Zeit nicht besonders gut dastand. Erst 1971 wurde das Frauenstimmrecht eingeführt und bis 1990 war die Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar.
Wir schreiben das Jahr 2018.
Natürlich, aber so lange ist das noch nicht her. Und es zeigt vor allem, dass die Gesellschaft eine Entwicklung durchgemacht hat und dass sie sich weiterentwickeln muss und kann. Dass gewisse Kreise die Debatte auf das Ausländerthema lenken, zeigt, dass es ihnen nicht wohl ist, über Gewalt gegen Frauen zu sprechen.
Der SP ist es ebenso unwohl, über Ausländerkriminalität zu sprechen.
Um das mal festzuhalten: Ohne SP und ohne SP Frauen hätte es gar nie eine Debatte gegeben. Die SP Frauen haben sich sämtlichen Diskussionen gestellt. Einzig an einem tendenziösen Streitgespräch des «Blicks» wollten sie nicht teilnehmen.
Der Diskussion über Ausländerkriminalität verwehrt sich die SP sehr wohl. Kein Wort davon steht im SP-Communiqué. Weshalb?
Weil es uns mit unserem 5-Punkte-Plan um den Schutz der Opfer geht. Wir fordern beispielsweise eine Kampagne: «Nein heisst Nein». Das ist Prävention. «Nein» heisst für alle «Nein», sei es ein Schweizer oder Ausländer. Wenn es ausländerspezifische Massnahmen braucht, dann kann man sicher darüber diskutieren. Aber mit einer Kampagne gegen Ausländer lösen wir das Problem nicht.
SP-Ständerätin Anita Fetz sagt, wer tabuisiert, dass Gewalt gegen Frauen überdurchschnittlich häufig von Ausländern ausgeht, der findet keine Lösungen für das Problem.
Natürlich macht es keinen Sinn, das zu tabuisieren. Interessanter wird es, wenn es um Lösungen geht. Vielleicht sollten wir mit den Ausländergemeinschaften über unsere Erwartungen sprechen. In Bulle, meiner Heimatstadt, haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Wir haben das Ausländerstimmrecht eingeführt und siehe da: Plötzlich haben sich alle Parteien und Verbände für die Ausländer interessiert. Es braucht einen regen Austausch, sicher auch über Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit. Ich will mich dieser Art von Auseinandersetzung nicht verweigern. Es greift aber zu kurz, das Problem auf die Ausländer zu reduzieren. Und vor allem ärgert mich die Heuchelei der rechten Parteien: Wenn es um konkrete Massnahmen geht, dann stehen immer wieder dieselben rechten Kreise auf der Bremse. Sie kürzen die Gelder für Gleichstellungsbüros und Frauenhäuser. Sie haben alles gemacht, um den Schutz vor Stalking zu verwässern.
Im Ständerat ging die Verschärfung doch glatt durch.
Ich war in der Kommission und weiss, wie die Diskussionen gelaufen sind. Plötzlich waren da Argumente wie dieses: Die Kosten für Fussfesseln sollten doch bitteschön von den Familien der Täter bezahlt werden. Ja, dann ist es klar, dass keine Frau Anzeige einreicht, wenn ihre eigene Familie finanziellen Schaden dafür erleidet. Das sagt viel über das fehlende Verständnis der Rechten aus, inwiefern Frauen mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind. (aargauerzeitung.ch)