20 Jahre verstaubte der Schutzstatus in der Schublade – jetzt geht es plötzlich schnell
Flüchtende aus der Ukraine sollen den Schutzstatus S erhalten. Das schlug Justizministerin Karin Keller-Sutter bereits vor einigen Tagen vor. So sollen Ukrainerinnen und Ukrainer vorübergehend in der Schweiz aufgenommen werden, ohne dass sie ein langwieriges Asylverfahren durchlaufen müssen. Am Freitag bestätigte der Bundesrat an seiner Pressekonferenz die Aktivierung des S-Status.
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Bisher kam der Schutzstatus noch nie zur Anwendung. Geschaffen wurde er bereits in den 1990er-Jahren während der Jugoslawien-Kriege. Damals flüchteten Zehntausende in die Schweiz. 1998 stellten 43'000 Personen ein Asylgesuch, 1999 sogar 47'500. Die Behörden waren mit der Registrierung und Unterbringung der Asylsuchenden überlastet.
Der Bundesrat sah sich deswegen zu einer Revision des Asylgesetzes veranlasst. Dabei bildete der Schutz für Kriegsvertriebene den Kern der Vorlage. Argumentiert wurde, die Rechtslage von Kriegsflüchtlingen sei ungenügend geregelt. Es brauche ein einfaches Verfahren, das ihnen vorübergehend Schutz garantiere, ohne dass ein langwieriges und kostspieliges Asylverfahren durchgeführt werden müsse. Die Gesetzesrevision wurde von der Bundesversammlung gutgeheissen. Am 13. Juni 1999 sagte auch das Volk mit deutlichen 71 Prozent Ja zur Vorlage.
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Doch dann passierte: nichts. Die Jugoslawien-Kriege gingen zu Ende, die geopolitische Lage beruhigte sich. Der neu geschaffene Schutzstatus geriet in Vergessenheit.
Ins Gespräch kam der S-Status erst wieder während der Migrationskrise 2015. In dem Jahr gelangten 40'000 Flüchtende in die Schweiz, vorwiegend aus Eritrea, Afghanistan und Syrien. FDP-Politiker forderten damals, anstatt vorläufige Aufnahmen zu verteilen, den Schutzstatus zu aktivieren. Vorläufig Aufgenommene mit dem Status F würden oftmals dauerhaft in der Schweiz bleiben. Mit dem Schutzstatus müssten die Asylsuchenden die Schweiz verlassen, sobald dieser aufgehoben werde, so das Argument der Liberalen.
Doch der Bundesrat blockte ab. Angesichts der komplexen Lage bei den Flüchtenden, müsse eine «individuelle Sicherheitsprüfung» durchgeführt werden, lautete die Erklärung. Zwischen den Zeilen hiess es, man wolle auch eine Sogwirkung verhindern. «Die Schweiz will nicht ohne Not ein Signal aussenden, das von der Sache her ohnehin nicht gerechtfertigt ist», sagte Pius Betschart, ehemaliger Vizedirektor des Staatssekretariats für Migration.
Und nun, nach über zwanzig Jahren, geht es plötzlich schnell. Ab Mitternacht gelte für Ukrainerinnen und Ukrainer, die Zuflucht in der Schweiz suchen, der Schutzstatus, sagte Bundesrätin Keller-Sutter an der Pressekonferenz vom Freitag. «Damit erhalten sie schnell und unbürokratisch Schutz, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen.» Konkret heisst das:
- Wer aufgrund des Krieges in die Schweiz flüchtet und eine ukrainische Staatsbewilligung hat, erhält automatisch eine S-Bewilligung.
- Auch Familienangehörige und Personen aus Drittstaaten, die das Land wegen des Kriegs verlassen mussten, bekommen den Schutzstatus.
- Der S-Ausweis ist ein Jahr gültig und danach verlängerbar. Nach frühestens fünf Jahren können Schutzbedürftige eine Aufenthaltsbewilligung B beantragen.
- Der Schutz gilt bis zum Widerruf des Bundesrates. Der S-Ausweis ist rückkehrorientiert.
- Die Schutzsuchenden können ihre Familienangehörigen nachziehen.
- Sie haben Anspruch auf Unterbringung, Unterstützung, medizinische Versorgung. Sie erhalten Sozialhilfe.
- Sie können ohne Wartefrist eine Arbeitsstelle antreten. Die Kinder können in die Schule.
Für die konkrete Umsetzung sind die Kantone und Gemeinden verantwortlich. Sie erhalten pro aufgenommene Person eine Pauschale vom Bund. Bundesrätin Keller-Sutter betonte, jetzt sei schnelles Handeln und etwas Flexibilität gefragt. «Wir wissen nicht, wie lange der Krieg dauert und wir wissen nicht, wie viele Menschen in die Schweiz kommen und wie lange sie bleiben.» Seit Beginn des Krieges seien über zwei Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet. «Dass in einer so kurzen Zeit so viele Menschen flüchten, das hat es noch nie gegeben», so die Bundesrätin.
Mit der Aktivierung des Schutzstatus schliesst sich die Schweiz der EU an, die bereits eine ähnliche Regelung beschlossen hat. Nächste Woche werde sie sich mit den EU-Innenministern treffen. Ein Diskussionspunkt sei, ob es ab einem gewissen Punkt einen Verteilschlüssel der Flüchtenden braucht. Wichtig sei, dass die Solidarität in Europa anhalte, damit man zusammen am gleichen Strick ziehe.
