Bei jedem zweiten Kind ist die Bindung zu seiner Bezugsperson gestört, sagt der Zürcher Psychologe Guy Bodenmann. In einem ganzseitigen Interview im «Tages-Anzeiger» erklärte er diese Woche, wie er auf diesen Schluss kommt. Dabei kam Bodenmann auch auf die Fremdbetreuung zu sprechen: «Vielleicht ist das nicht opportun, doch Studien legen nahe: Ideal für den Start des Krippenbesuchs wäre das Alter von zwei bis drei Jahren, da das Kind dann bereits eine sichere Bindung zu seinen primären Bezugspersonen aufbauen konnte.»
Er ist nicht der erste Psychologe, der sich kritisch zu einer frühen Betreuung in der Kinderkrippe äussert. «Für rund 20 bis 22 Prozent der Einjährigen, die in eine Krippen kommen, ist es eigentlich zu früh», sagte vor einem Jahr der dänische Familientheapeut Jesper Juul zum Portal «Swissmoms». «Meiner Meinung nach wäre es besser für so kleine Kinder, zu Hause bleiben zu können oder von einer Tagesmutter betreut zu werden.»
Die Realität ist eine andere: Gemäss Zahlen des Bundesamtes für Statistik wurden 2014 40 Prozent der 0 bis 3-Jährigen Kinder institutionell betreut. Mehr als fünf Prozent aller Kinder besuchen dabei 30 und mehr Stunden in der Woche eine Krippe oder eine Tagesfamilie. Tendenz steigend.
BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti ist Präsidentin des Verbands Kinderbetreuung Schweiz. Ginge es nach ihr, hätten Eltern nach der Geburt ihrer Kinder länger Zeit, bis sie wieder voll in den Arbeitsalltag einsteigen müssen. «Die Erkenntnisse der Psychologen sollten ein Wachruf sein – ein weiteres Indiz, dass die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie heute sehr schwierig ist.»
Mit ihrer parlamentarischen Initiative Elternzeit versuchte sie für Eltern nach der Geburt 14 Extrawochen zu schaffen, die Mami und Papi frei unter sich hätten aufteilen können. Doch das Parlament gab dem Vorstoss keine Folge. Wie eigentlich immer bei solchen Vorhaben, bedauert die BDP-Politikerin. «Nicht einmal für einen 20-tägigen Vaterschaftsurlaub konnte sich der Bundesrat durchringen.»
SVP-Nationalrätin und Kleinkinderzieherin Nadja Pieren hingegen meint, man dürfe den Steuerzahler nicht zu stark belasten. So dass Familien genug Geld übrig hätten, um noch selber entscheiden zu können, wer wie viel arbeitet. Und: An wie vielen Tagen das Kind die Kindertagesstätte besucht.
Pieren führt in Bremgarten (Bern) selber eine Kindertagesstätte. Hier können Kinder ab dem Alter von vier Monaten tagsüber die Kita besuchen. Wobei Pieren Eltern empfiehlt, zwei Monate länger zu warten.
Jüngere Kinder hätten andere Bedürfnisse als die grösseren, meint auch Pieren. «Wir achten darauf, dass möglichst immer dieselbe Person den Säugling betreut, ihn wickelt und ihm den Schoppen gibt. Damit hat er die Möglichkeit eine Beziehung zu seiner Bezugsperson aufzubauen.»
Eines findet Pieren dann aber doch schwierig: Eltern, die ihre Kinder fünf Tage die Woche, von 7 Uhr bis 19 Uhr in die Krippe abgeben und somit ihre Funktion als Haupterzieher auf die Krippe abschieben. «In der kurzen Randzeit des Tages, die sie mit ihrem Kind verbringen, ist es schwierig, die Erziehungsfunktion wahrzunehmen. Dadurch werden sie für ihr Kind eher eine grosszügige Grosi- anstatt der Mutterrolle übernehmen.»
«Solche Aussagen von Fachpersonen geben Eltern, die ihre Kinder schon früh in die Krippe geben, das Gefühl, etwas falsch zu machen», sagt SP-Nationalrätin Mattea Meyer zum Interview von Bodenmann. Derartige Pauschalurteile seien unnötig und können betroffene Eltern verunsichern, fährt Meyer fort, die im März selber Mutter wurde.
Die Tochter der SP-Politikerin besucht mittlerweile die Krippe. «Ich bin extrem froh über dieses Angebot», sagt Meyer. «Kinderkrippen ermöglichen nicht nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie leisten mit ihrer Frühförderung auch wertvolle Arbeit für die Chancengleichheit der Kinder. Ich habe den grössten Respekt vor der anstrengenden Arbeit, die das Personal leistet. Dafür werden sie eigentlich viel zu schlecht bezahlt.»