Herr Vidino, die Terroristen attackierten in Paris ein Restaurant, einen Konzertsaal und ein Fussballstadion. Warum gerade diese Ziele?
Lorenzo Vidino: Offensichtlich sind das einfache Ziele, die eine hohe Zahl an Opfern garantieren. Die Terroristen greifen das Alltagsleben von normalen Menschen an. «Charlie Hebdo» war ein strategisches Ziel. Jetzt attackieren sie Orte, wo Sie und ich an einem Freitagabend hingehen könnten. So säen die Terroristen Angst.
Frankreich hat den IS militärisch angegriffen. Die Schweiz verfolgt eine zurückhaltende Aussenpolitik. Sind wir sicher vor solchen Anschlägen?
Die Schweiz ist kein Hauptziel der Terroristen. Aber es wäre naiv zu glauben, dass sie absolut sicher ist. Vor einem Jahr flogen Anschlagspläne von Islamisten in der Schweiz auf. In Syrien und im Irak wurden auch schon Schweizer Dschihadisten trainiert. Die Schweiz ist aber nicht im gleichen Ausmass gefährdet wie England oder Frankreich.
Interessieren sich die Terroristen überhaupt für die Aussenpolitik verschiedener Staaten oder kämpfen sie pauschal gegen die westliche Kultur?
Es ist ein Mix aus beidem. Im Communiqué des IS, dessen Echtheit sich noch zeigen muss, sind beide Elemente vorhanden. Der IS kritisiert Frankreich wegen der Bomben, aber auch weil sich Franzosen über den Propheten Mohammed lustig gemacht hätten. Und wegen des Kopftuchverbots. Es ist eine Kombination aus Aussen- und Innenpolitik. Die Schweizer Aussenpolitik ist weniger aggressiv als die britische, amerikanische oder französische. Aber die Schweiz gibt den Islamisten andere Gründe, sie nicht zu mögen. Etwa das Minarettverbot oder islamophobe Äusserungen von Politikern.
Europa wurden in den letzten Jahren immer wieder Ziel von Anschlägen. Was ist jetzt anders?
Seit den Anschlägen in Madrid vor zehn Jahren hatten wir keinen Anschlag mehr mit derart vielen Toten. Neu ist die Art, wie die Terroristen agieren: mit militärischer Taktik. Nie da gewesen ist die Anzahl Personen, die mit dem IS verbunden sind. Darum fürchte ich, dass es weitere solche Anschläge geben wird.
Warum konnte der Anschlag trotz allen Sicherheitsvorkehrungen nicht verhindert werden?
Die Franzosen gehen von über 2000 potenziellen Gewalttätern aus. 1200 Personen gingen nach Syrien, um zu kämpfen. Wie will man die alle überwachen? Die Ressourcen sind beschränkt. Mit dem Islamischen Staat zu sympathisieren und Entsprechendes auf Facebook zu posten, ist zudem noch kein Verbrechen. Es gilt die Meinungsfreiheit. Überwachungen dürfen zudem nur in einem beschränkten Rahmen durchgeführt werden.
In der Schweiz geben gewisse rechte Politiker dem Islam die Schuld und einer liberalen Einwanderungspolitik. Ist das eine berechtigte Kritik oder genau das, was die Terroristen wollen?
Offensichtlich ist es nicht sehr vernünftig, den Islam pauschal zu kritisieren. Das ist destruktiv und das, was die Terroristen wollen, nämlich den «Clash of Civilizations» anheizen. Auch die Anschläge auf die Flüchtlinge zurückzuführen, ist falsch. Die grosse Mehrheit stellt keine Gefahr dar. Gleichzeitig können wir nicht ausschliessen, dass, wenn Hunderttausende in kurzer Zeit nach Europa kommen und wir nicht überprüfen können, wer sie sind, auch einige wenige mit Verbindungen zum Terrorismus darunter sind. Alles andere wäre naiv. Was wir aber am wenigsten brauchen können sind Politiker, welche die Anschläge für ihre politische Agenda missbrauchen.
Was wäre eine angemessene Reaktion auf den Terror?
Es ist eine heikle Situation. Es gibt kaum noch Spielraum, die Gesetze zu verschärfen, ohne Grundwerte unserer westlichen Gesellschaften preiszugeben. Wir können den Geheimdiensten mehr Geld geben oder international besser zusammenarbeiten. Einer der Hauptgründe für diese Krise ist aber der Islamische Staat. Er breitet sich wie ein Krebsgeschwür aus. Solange wir darauf keine entschiedene Antwort haben und solange der IS in Syrien und im Irak ein Rückzugsgebiet hat, müssen wir mit solchen Anschlägen rechnen.