Mit den Schüssen auf unschuldige Zivilisten in Paris hat der Islamische Staat eine neue Front eröffnet und seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, auch fernab des «Kalifats» zuzuschlagen. Die Brutalität der Dschihadisten, die sich auch in ihren abscheulichen Hinrichtungsmethoden offenbart, hat Methode. Der niederländische Autor und Trendforscher Adjiedj Bakas hat in der belgischen Zeitung «Het Laatste Nieuws» den Endzeitglauben der IS-Kämpfer analysiert.
Die Ausrufung des Kalifats durch Abu Bakr al-Baghdadi am 29. Juni 2014 ist laut Bakas wichtig, um die religiösen Triebfedern des Islamischen Staats zu verstehen. Zwar wollten die meisten Muslime nichts mit dem IS zu tun haben und sie gehörten überdies zu dessen hauptsächlichen Opfern. «Das bedeutet aber nicht, dass der IS nicht islamisch ist.» Es handle sich um eine Sekte, und Sekten würden stets den Mainstream-Glauben angreifen, aus dem sie hervorgegangen seien. «Sekten sind auch nur aus diesem Glauben heraus zu verstehen», sagt Bakas.
In der islamischen Tradition, den Hadithen, gebe es die Prophezeiung, dass die Welt zwei Phasen kennen werde, in denen ein Kalifat bestehe – unterbrochen von einer Zeit der Tyrannenherrschaft. Das erste Kalifat ging mit dem Osmanischen Reich unter, das zweite ist nach dessen eigener Lesart der Islamische Staat. Für den IS läute die Errichtung des zweiten Kalifats das Ende der Zeiten ein, in dem die Truppen des Gottesstaates, wie Bakas erklärt, einen apokalyptischen Kampf gegen die Ungläubigen führen.
Apokalyptische Sehnsüchte kannte man bisher vor allem von den Schiiten, in deren Glaubenswelt der Mahdi – ein Nachkomme des Propheten, der in der Endzeit erscheint und das Unrecht beseitigt – eine wichtige Rolle spielt. Nun hätten auch Teile der Sunniten diesen apokalyptischen Glauben angenommen, stellt Bakas fest. «Die Enthauptungsvideos des IS sind im Grunde Werbespots für das Ende der Zeiten.»
Ziel des Terrors sei nämlich, dem Feind Angst einzuflössen und ihn zum Kampf herauszufordern. Erst mit der umfassenden Konfrontation zwischen Gläubigen und Ungläubigen könne die Endzeit anbrechen. Der Terror sei daher ein wichtiger Teil des Dschihad, wie ihn der IS versteht. Zu den Pflichten des Kalifen gehöre es, die Welt in Brand zu stecken, Krieg zu führen und Land zu erobern.
Bakas sieht allerdings einen Unterschied zwischen der islamischen Expansion der Frühzeit und dem Terror des IS. Die Eroberungen der ersten Kalifen seien aus einem gewissen «Fortschrittsoptimismus» erfolgt, während der Terror des IS nihilistisch sei – «eine blutige Apokalypse, die mit gewissenloser Grausamkeit verwirklicht wird».
Die «Wegseher» im Westen, behauptet Bakas, seien nicht imstande, dies zu erkennen. Der Westen habe denn auch noch keine Antwort auf diesen «neuen Faschismus». Allerdings habe sich der IS mit der Errichtung des Kalifats angreifbar gemacht, denn ein Kalifat könne nicht ohne ein Territorium bestehen: «Anders als zum Beispiel die al-Kaida kann der IS keine Existenz im Untergrund führen», sagt Bakas. «Ohne Territorium haben die IS-Kämpfer nichts mehr, wofür sie kämpfen können.»
Daraus leitet Bakas ab, dass der militärische Kampf gegen den IS mit voller Kraft geführt werden müsse, so wie es auch der Rotterdamer Bürgermeister Ahmed Aboutaleb verlangt habe. Der in Marokko geborene sozialdemokratische Politiker hatte nach den Anschlägen in Paris gesagt: «Es wird jetzt wirklich Zeit, die vierzig- oder fünfzigtausend Mann dort vollständig wegzufegen.»
Daneben hält Bakas es für notwendig, den ideologischen Kampf gegen den IS aufzunehmen. Es sei wichtig, dass muslimische Jugendliche, die sich im Westen ausgeschlossen fühlten, nicht ihr Heil beim IS suchten. Der Islamische Staat indoktriniere seine Rekruten so, dass sie Andersdenkende in einer theologischen Debatte mit Koranzitaten eindecken könnten. «Redegewandte Imame und andere Repräsentanten der islamischen Gemeinschaft können Gegensteuer geben», hofft Bakas, «vorausgesetzt, dass auch sie endlich einsehen, dass die gewalttätige Lehre des IS eben doch islamisch ist.» (dhr)
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