Am Freitagmorgen wartete Österreich mit einer Hiobsbotschaft auf: Am nächsten Montag fährt das ganze Land erneut herunter. Für zehn Tage sollen alle Geschäfte geschlossen und der Präsenzunterricht an Schulen eingestellt werden.
Hierzulande hält man sich mit Massnahmen zur Eindämmung der Virusverbreitung zurück. Wie Gesundheitsminister Alain Berset am Donnerstag vor den Medien sagte, sei die Lage zwar ungemütlich, es seien aber trotz steigender Corona-Fallzahlen und Spitaleintritten derzeit keine zusätzlichen Massnahmen notwendig. Das Nicht-Entscheiden hat wohl auch taktische Gründe: Am 28. November stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über das Covid-19-Gesetz ab. Solange die Vorlage nicht im Trockenen ist, sind vom Bundesrat kaum grosse Sprünge zu erwarten.
Aber spätestens nach dem Abstimmungstag braucht es wegweisende Entscheide. Denn auch hierzulande muss damit gerechnet werden, dass die Hospitalisierungen weiter zunehmen. Noch immer führt die Schweiz die Rangliste der Ungeimpften in Westeuropa an: Nur in Österreich finden sich mehr Menschen, die noch keine Covid-19-Impfung erhalten haben.
Steigt die Impfrate nicht weiter und werden mehr infizierte Menschen in Spitäler eingeliefert, müssen Pläne bereitliegen. Fünf Covid-Strategien, die aktuell zur Diskussion stehen und wie wahrscheinlich deren Umsetzung ist.
Österreich kennt die 2G-Regel bereits: Seit Montag, 15. November, kann nur am öffentlichen Leben teilnehmen, wer geimpft oder genesen ist.
Diese Option wurde in der Schweiz bereits vorsichtig diskutiert. Die Meinungen gehen auseinander. So etwa in der Wissenschaft: Für Taskforce-Chefin Tanja Stadler ist die 2G-Regel eine «Alternative zu Schliessungen», wie sie dem SRF mitteilte. Auch der Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (SVP) hält ein 2G-Zertifikat für eine «denkbare Option», sagte er Anfang Oktober gegenüber SRF. «Wir können nicht die Freiheit der Mehrheit für den Schutz einer Minderheit aufs Spiel setzen», begründet Schnegg. Ins gleiche Horn bläst auch Christoph Fux, Chefarzt für Infektiologie am Kantonsspital Aarau. Die 2G-Massnahme sei eine wichtige Option im Kampf gegen das Virus, so Fux in der Sendung «TalkTäglich» von TeleM1.
Etwas zurückhaltender äussert sich der Zürcher Infektiologe Jan Fehr: «2G favorisieren wir nicht, aber es ist etwas, das zu prüfen ist», sagte er Anfang November in der Sendung «10vor10». Die Epidemiologen Christian Althaus und Marcel Salathé halten 2G hingegen nicht für zielführend. Die Diskussion darüber würde von den «wichtigen Faktoren» ablenken, sagte Salathé gegenüber dem «Blick»: mehr Erstimpfungen und rasche Booster-Impfungen. Klar kommuniziert auch Lukas Engelberger, Präsident Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK), an der Medienkonferenz am Donnerstag: «Einen Systemwechsel zu 2G haben wir nicht andiskutiert und möchten wir auch nicht.»
Ich zweifle, ob eine 2G-Regelung tatsächlich viel bringen würde. Stattdessen würde ich die PCR-Tests weiterhin kostenfrei anbieten, aber die Gültigkeitsdauer auf 48 oder sogar 24 Stunden reduzieren. https://t.co/jZrPxyWUsJ
— Christian Althaus (@C_Althaus) November 9, 2021
Auch politisch sind bisher keine Forderungen nach einer solchen Regel aufgekommen. Im Gegenteil: Schweizer Politikerinnen wie die Nationalrätinnen Yvonne Feri (SP), Martina Bircher (SVP) und Ruth Humbel (Mitte) äussern sich im« Zofinger Tagblatt» dagegen. «2G käme einer Impfpflicht gleich», so SP-Nationalrätin Feri.
Ganz vom Tisch ist 2G nicht. Verschlechtert sich die epidemiologische Lage in der Schweiz und nehmen die Hospitalisationen zu, könnte eine Verschärfung erneut thematisiert werden. Auch, weil 2G im Gegensatz zu einem Lockdown die mildere Massnahme ist. Dennoch dürften die politischen Hürden hoch sein. So stellte sich die Freiburger Staatsrechtlerin Eva Maria Belser in den Tamedia-Zeitungen auf den Standpunkt, dass für eine 2G-Regel eine Gesetzesänderung zwingend erforderlich sei.
Kommt hinzu, dass 2G in der Realität nur bedingt einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hat. Der Blick nach Österreich zeigt: Auch 2G bremst nicht genug. Am Freitag verhängte die Regierung für das ganze Land einen zehntägigen Lockdown – egal ob geimpft oder ungeimpft.
Bereits erprobt ist der Lockdown: Geschäfte schliessen, alle Menschen sollen zu Hause bleiben. Dafür öffentlich eingesetzt hat sich bislang niemand. Politikerinnen von links bis rechts wollen einen Shut- beziehungsweise Lockdown mit allen Mitteln verhindern. In einem Interview mit dem «Walliser Boten» führt Bioethikerin Samia Hurst-Majno aus: «Ich hoffe wirklich, dass wir fähig sein werden, die Situation mit anderen Mitteln zu meistern.»
Auch Gesundheitsminister Alain Berset teilte an einer Medienkonferenz am Donnerstag mit, dass man versuche, härtere Massnahmen zu verhindern. Seit Beginn der Krise hat die Schweiz einen eigenen Weg verfolgt, um das Optimum der Bevölkerung zu erreichen», so der Bundesrat.
Ein Lockdown sowohl für Geimpfte als auch für Ungeimpfte dürfte Ultima Ratio bleiben (deshalb erübrigt sich auch eine tabellarische Übersicht). Die Schliessung von Geschäften und Schulen hatte grosse finanzielle und soziale Konsequenzen. Man wird zuerst versuchen, alle anderen Optionen auszuloten, bevor das Wort Lockdown überhaupt wieder von der Gesundheitsbehörde in den Mund genommen wird.
Gemäss Epidemiengesetz kann der Bundesrat eine Impfpflicht für «einzelne Personengruppen» einführen, beispielsweise Pflegepersonal oder Lehrpersonen, die durch ihren Beruf besonders exponiert sind. Auch Kantone könnten ein Obligatorium bei besonderer Gefahr erlassen, etwa wenn das Gesundheitssystem unmittelbar gefährdet ist.
Auch private Unternehmen können für ihr Personal eine Impfpflicht beschliessen. Die Swiss hat dies als erste grosse Schweizer Firma bereits getan. Ungeimpftes Flugpersonal darf ab dem 1. Dezember nicht mehr bei der Swiss arbeiten.
Die Diskussion um eine Impfpflicht hat an Fahrt aufgenommen. Neben dem Medizinethiker Mathias Wirth sprach sich auch SVP-Präsident Marco Chiesa für ein Impfobligatorium für medizinisches Personal aus. Auch Epidemiologe Christian Althaus findet es an der Zeit, über eine Impfpflicht nachzudenken: «Ein vorübergehendes Impfobligatorium im Pflegebereich ergibt zum Schutz der Patienten sicher Sinn und ist wohl prüfenswert», sagte er in einem Interview mit der NZZ.
Der Impfpflicht kritisch gegenüber steht Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel. Sie denkt nicht, dass dieser Vorschlag mehrheitsfähig wäre. Und auch Virginie Masserey, Leiterin Infektionskontrolle beim BAG, sagte kürzlich, dass es derzeit keine Überlegungen in diese Richtung gäbe. Im Juli sprach sich auch die Präsidentin der nationalen Ethikkommission Andrea Büchler gegen einen Zwang aus. Gegenüber SRF sagte Büchler: «Es kann durchaus Situationen für ein Impfobligatorium geben – aber jetzt wäre es nicht das Richtige.»
Im Ausland sind die Gespräche um ein Impfobligatorium schon in vollem Gange: Die Nationale Akademie für Wissenschaft «Leopoldina» hat sich klar für ein Impfobligatorium «für Multiplikatoren» ausgesprochen, etwa bei Pflegekräften und beim Lehrpersonal. Die Noch-Regierung unter Merkel lehnte das bis anhin ab. In Belgien sollen bis Anfang April 2022 alle Pflegefachpersonen geimpft sein, sonst droht eine Suspendierung vom Dienst.
In der Schweiz wurde das letzte nationale Impfobligatorium gegen Pocken bei Kindern im Jahre 1944 für eine kurze Zeit eingeführt. In den Kantonen Genf und Neuenburg ist die Diphterie-Impfung für Kinder heute noch obligatorisch, aber beide Kantone setzten das Obligatorium nicht durch. Auch einzelne Arbeitgeber wie Spitäler verlangen gewisse Impfungen. Wer sie nicht machen will, muss meistens damit rechnen, dass er oder sie den Job nicht erhält.
Ganz unwahrscheinlich ist eine Einführung des Impfobligatoriums für bestimmte Personengruppen folglich nicht. Doch auch hier zeigt sich vor allem die Politik zurückhaltend. Man will so gut es geht Zwang und Drohungen im Kampf gegen die Pandemie vermeiden.
Dass neben der Swiss weitere privatwirtschaftliche Unternehmen auf eine Impfpflicht setzen könnten, ist wahrscheinlicher.
Mit der 3G-Regel in Restaurants, Museen, Fitnesszentren und Co. fallen andere Massnahmen wie eine Maskenpflicht oder Abstand halten mehrheitlich weg. Verschlechtert sich die epidemiologische Lage, könnte der Bundesrat folglich auch einen Zwischenweg wählen und bisher ergriffene Massnahmen wieder verschärfen. Möglich wären eine erneute Homeoffice-Regel, Maskenpflicht trotz 3G oder eine Personenbegrenzung für Veranstaltungen.
Davor warnte auch der Zuger Kantonsrat Rudolf Hauri an einer Pressekonferenz. «Es kann wieder Einschränkungen bei den Menschenansammlungen oder bei Anzahl Gästen in Innenräumen geben. Es ist nichts ausgeschlossen.»
Dezidiert für oder gegen eine Verschärfung bisheriger Massnahmen äusserten sich Politikerinnen und Gesundheitsbehörde derweil wenig. Und so bleiben kleinere Verschärfungen auch die wahrscheinlichsten nächsten Schritte des Bundesrates.
Die Wiedereinführung einer Maskenpflicht trotz 3G ist mit wenig Aufwand verbunden. Denn noch müssen in öffentlichen Räumen wie beispielsweise in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Einkaufen weiterhin Masken getragen werden. Und auch eine Begrenzung von Personenzahlen in Restaurants wäre für viele Betreibende zwar ärgerlich, aber schnell umsetzbar. Auch das Homeoffice ist bereits erprobt und viele Arbeitnehmende könnten schnell wieder wechseln.
Diese Strategie fährt der Bundesrat aktuell: Man beobachtet die Situation und spricht verhaltene Warnungen aus. Der FDP-Nationalrat Marcel Dobler findet den Entscheid des BAG, mit weiteren Massnahmen noch zuzuwarten, «völlig richtig». «In der Schweiz sind wir aktuell weit von einer Entwicklung wie beispielsweise in Dänemark bei den schweren Verläufen entfernt», so Dobler gegenüber «20 Minuten».
Dobler ist mit dieser Meinung aber in der Minderheit. Für Infektiologe Jan Fehr ist Abwarten zum aktuellen Zeitpunkt eine verheerende Strategie. «Wir brauchen einen Eskalationsplan. Die Gesamtsituation hat sich wieder dermassen zugespitzt, dass man ganz ernsthaft verschiedene Szenarien wieder durchdenken muss. Ansonsten werden wir wieder auf dem falschen Fuss erwischt», sagt Fehr gegenüber watson.
Auch GLP-Nationalrat Martin Bäumle sieht Handlungsbedarf. «Mir wäre Antizipieren statt Beobachten und immer eher zu spät reagieren seit mehr als anderthalb Jahren ein Anliegen», so Bäumle gegenüber «20 Minuten».
Mit dieser Strategie ist aller Voraussicht nach auch noch in den nächsten Tagen, wenn nicht sogar Wochen zu rechnen. Solange die Situation in den Spitälern und auf den Intensivstationen unter Kontrolle ist, wird sich der Bundesrat hüten, weitere Massnahmen zu treffen. Kommt wie anfänglich erwähnt hinzu, dass das Abwarten auch politisches Kalkül ist. Denn noch ist das Ja zum Covid-19-Gesetz am 28. November nicht in trockenen Tüchern.
Schlussendlich wird es doch darauf hinauslaufen dass wir alle immunisiert sein müssen.
Vorher wird es immer so weiter gehen: Lockerung, Lockdown, Lockerung etc.