Es dauert zehn Minuten bis die Co-Präsidentin der SP zum ersten Mal die Fassung verliert. Es wird nicht das einzige Mal bleiben, dass Mattea Meyer ihre Bestürzung zum Ausdruck bringt. Auslöser für ihre Gefühlswallung ist Martina Bircher, Nationalrätin der SVP. Sie ist bekannt als rechte Hardlinerin, als eine, die gerne aneckt. Vor allem, wenn es um Asylsuchende und ausländische Personen geht, ist man sich von ihr einiges gewohnt. Doch Birchers Ausführungen über afghanische Geflüchtete sind Meyer dann doch zu viel des Guten.
Man sehe es ja heute schon, ärgert sich Bircher: «Drei Viertel der Afghaninnen und Afghanen in der Schweiz leben von der Sozialhilfe.» Die linken Städte würden sich jetzt als Samariter inszenieren, doch die Kosten müssten dann jene Gemeinden tragen, in denen sich diese Leute niederlassen. Darum sei es viel sinnvoller, den Franken vor Ort zu investieren, «anstatt die Leute in die Schweiz zu bringen, in ein anderes System, in eine andere Kultur, wo sie viel mehr Kosten verursachen.»
«Das, Kollegin Bircher, ist unehrlich», tadelt Meyer sichtlich verärgert. Die SVP wolle das Geld für die Entwicklungszusammenarbeit seit Jahren kürzen. «Dann stehen Sie doch wenigstens dazu und sagen, dass Sie nichts damit zu tun haben möchten und nicht helfen wollen.»
So schnell die Taliban in den vergangenen Tagen in Kabul die Macht ergriffen hatten, so schnell war hierzulande die alte Debatte über Asyl- und Flüchtlingspolitik aufgewärmt. Während die Grünen zusammen mit den Sozialdemokraten fordern, dass der Bund jetzt 10'000 Geflüchteten aus Afghanistan Asyl bietet, lehnen dies die bürgerlichen Parteien kategorisch ab. Sie plädieren für Hilfe vor Ort.
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In der SRF-«Arena» soll die Frage diskutiert werden, wie man den Menschen in Afghanistan am besten helfen kann. Während sich die Fronten zwischen SVP-Nationalrätin Bircher und SP-Frau Meyer schnell auftun, zaudert FDP-Ständerat Damian Müller. Ruhig bleiben müsse man. Die Lage analysieren. Nur nichts überstürzen jetzt. Fade wiederholt dies Müller während der Sendung wie ein Mantra – als ob er befürchtet, sich an dem heissen Thema die Finger zu verbrennen.
Nur einmal gibt er sich die Blösse und regt sich auf. Ihn nerve, dass sich die Amerikaner überall einmischen, aber so weit weg seien, dass es am Schluss immer Europa treffe. «Das ist etwas, das man in der internationalen Gemeinschaft auch mal anpacken muss und sagen muss: So geht das nicht.»
Ungewiss ist, was den beiden Publikumsgäste im Hintergrund durch den Kopf geht, während sich die Studiogäste in der vorderen Reihe darüber streiten, wie viele Geflüchtete die Schweiz aufnehmen soll und was den Menschen vor Ort wirklich hilft. Zaher Ahmadi, 30 Jahre alt und Nabila Yaghubi, 24 Jahre alt stammen beide aus Afghanistan und leben seit mehreren Jahren als vorläufig Aufgenommene in der Schweiz. Fragt man nach ihrer Meinung, ist der Fall klar: Sie möchten keinen Tag länger warten, um ihre Schwestern, Brüder, Väter und Mütter in die Schweiz in Sicherheit zu holen.
Ahmadi steht in Kontakt mit seinen Familienangehörigen in Kabul. Seine Cousine sei vor der Machtübernahme im Militär gewesen und habe jetzt abtauchen müssen. «Sie kann nicht schlafen und schreibt mir: Kannst du mir helfen?» Auch Yaghubi hat Verwandte in Kabul. Es sei sehr gefährlich, vor allem für Frauen und Kinder. «Meine Cousinen waren an der Universität oder haben im Spital gearbeitet. Jetzt können sie das nicht mehr tun. Unter den Taliban werden sie keine Rechte haben.»
Auch wenn SVP-Frau Bircher beteuert, die Bilder aus Kabul würden nicht spurlos an ihr vorbeigehen, bleibt sie hart. Die Genfer Flüchtlingskonventionen schütze Menschen, die an Leib und Leben bedroht seien. Da könne man sich nicht einfach ein Land aussuchen, in das man reisen wolle. Der Afghanin Yaghubi wirft sie vor, aus wirtschaftlichen Interessen in die Schweiz gekommen zu sein. «Sie hätte auch in Griechenland bleiben können.»
Meyer braucht eine Sekunde, um die Sprache wiederzufinden, angesichts dieser stumpfen Abgebrühtheit. «Ich halte es fast nicht aus, wie abschätzig heute Abend über Menschen gesprochen wird», sagt sie. Dann findet sie zurück zu ihrer Klarheit und macht klar: «Es gibt Afghaninnen und Afghanen in der Schweiz, deren Angehörige jetzt an Leib und Leben bedroht sind. Da kann der Bundesrat etwas tun und jetzt einen Unterschied machen.»
Doch die Worte scheinen kaum zu Bircher durchzudringen. Sie klammert sich an Zahlen und Statistiken, erzählt von ausgeschöpften Kontingenten, Arbeitslosenquoten und wie schwer sie es als Sozialvorsteherin einer kleinen Gemeinde jetzt schon habe. Nicht auszudenken, was passiere, wenn jetzt die Familien derjenigen Afghaninnen und Afghanen nachgezogen werden, die jetzt schon in der Schweiz lebten. «Eine afghanische Frau hat ja im Schnitt fünf Kinder. Da können Sie ausrechnen, wie viele Leute das dann sind, die in die Schweiz kommen sollen», sagt Bircher.
Nur zu einem Zeitpunkt gelingt es Meyer, ihre Nationalratskollegin abzuholen. Hierfür muss sie persönlich werden: «Wir sind beide junge Mütter. Was unterscheidet uns zwei von einer afghanischen Mutter, die jetzt in Gefahr ist?»
Trotz des grossen Engagements von Meyer und Co. ist es unwahrscheinlich, dass die Linke den Bundesrat noch umstimmen kann. Bereits vergangene Woche hat Justizministerin Karin Keller-Sutter klargemacht, dass die Schweiz nicht grössere Gruppen aus Afghanistan aufnehmen werde. Eine Spezialeinheit der Armee sucht in Kabul nach Lösungen, die verbliebenen Schweizerinnen und Schweizer und die afghanischen Angestellten des Aussendepartements zusammen mit ihren Familien zu evakuieren.
Der im SRF-Studio anwesende Nahost-Experte Erich Gysling erwartet, dass die Taliban in den kommenden Wochen stückweise von ihrem vermeintlich toleranten Kurs abweichen werden. «Sie werden einen strikten Kurs durchsetzen.»
Zum Schluss bleibt nur der dringende Appell der 24-jährigen Nabila Yaghubi. «Ich bitte euch, die Frauen und alle Leute, die jetzt dort sind, brauchen Hilfe. Wenn ihr jetzt helfen könnt, ist es besser als morgen, nächste Woche oder nächsten Monat.»
Aber die Forderung, dass jetzt alle Angehörigen von Flüchtlingen zu uns kommen dürfen, muss für Leute die keine solchen Angehörigen haben und da verbleiben, nach einem Hohn klingen.
Es ist wirklich eine unglaubliche Heuchelei. Ich stimme Meyer zu: Sagt einfach, dass ihr nichts damit zu tun haben wollt. Das ist eh das, was eure Wähler hören wollen – und auch hören, wenn ihr von "Hilfe vor Ort" spricht.