Mir ist übel. Seit 7 Uhr morgens. Dann hat mir Social Media ein Foto auf den Handybildschirm gespült. Ohne Vorwarnung. Seither lässt es mich nicht mehr los.
Das Bild zeigt einen leblosen Kinderkörper. Ohne Kopf. Ich erspare euch die Details.
Verantwortlich dafür ist Israel mit seinem Angriff auf ein Flüchtlingscamp in Rafah. So schreibt es zumindest der Urheber des Posts. Ich weiss nicht, ob diese Information stimmt. Ich weiss auch nicht, ob das Bild wirklich echt ist. Ich konnte es nicht länger als eine Sekunde anschauen. Noch immer bin ich gelähmt und überwältigt von Emotionen:
Weil ich will, dass dieses Leid sofort aufhört. Weil ich helfen will. Aber wie sollte ich das tun, wenn es nicht einmal unsere Politik, nicht einmal die internationale Gemeinschaft schafft, diese Gewalt zu beenden?
Während ich mit der Ohnmacht kämpfe, versuchen mir zahlreiche weitere schockierende Bilder, Videos, Posts, Nachrichten zu zeigen, welches Leid die eine Seite der anderen zufügt. Und umgekehrt.
Ich sehe ein geköpftes Kind. Täter soll sein: Israel. Ich höre von Vergewaltigungen. Täter sollen sein: Hamas-Terroristen. Ich sehe auf meinem Handy ein Flammeninferno zwischen Zelten. Verantwortlich soll sein: Israel. Ich vernehme Details zu einem verstörenden Geisel-Video. Verantwortlich soll sein: die Hamas.
Gewaltspirale.
So nennen wir Medien das, was sich in Nahost in Gang gesetzt hat. Ich stelle mir eine Spirale vor. Sie dreht und dreht und dreht und dreht.
Vor meinem inneren Auge kann ich mit viel Konzentration verschwommen ihren Anfang erkennen. Aber was ist mit dem Ende? Wo ist das Ende?
Ich kann es vor lauter Drehen nicht sehen. Mir wird schwindlig. Das Bild des leblosen Kinderkörpers blitzt auf. Schock, Angst, Trauer, Ohnmacht.
Und dann, ganz am Schluss: Wut.
Gegen wen richtet sie sich?
Diese Frage ist der springende Punkt. Ich merke, wie meine Wut automatisch auf jene zurasen möchte, die auf Bildern, in Videos und in Texten für das Grauen verantwortlich gemacht werden. Dabei spielt es keine Rolle, was wahr und was falsch ist.
Aber ich merke auch, dass sich – kurz bevor die Wut einsetzen kann, wenn die Ohnmacht noch Überhand hat – mein Magen zusammenzieht. Angesichts so viel Grausamkeit, zu der der Mensch scheinbar fähig ist, will ich mich am liebsten übergeben. Als würde mein Körper mir signalisieren:
Mein Körper hat recht. Ich ertrage diese Gewalt nicht. Ich muss mich vor solchen Inhalten schützen.
Ist das ignorant? Verschliesse ich damit die Augen vor dem Leid anderer? Vor der Realität?
Nein.
Es ist sogar gut, dass ich diese Gewalt nicht ertrage. Es zeigt mir, dass ich noch nicht abgestumpft bin. Dass mir das Leid der Menschen nicht egal ist. Dass ich die Fähigkeit habe, Empathie zu empfinden. Und zwar mit allen Menschen. Eine Fähigkeit, die ich auf keinen Fall verlieren möchte. Die auch unsere Gesellschaft auf keinen Fall verlieren sollte.
Doch seit dem 7. Oktober habe ich genau davor Angst.
Ich fürchte mich davor, dass unsere Gesellschaft abstumpft. Dass die Bilder, die unsere Aufmerksamkeit noch auf sich ziehen können, immer krasser, immer expliziter werden müssen, damit wir noch etwas fühlen. Dass es dabei keine Rolle spielt, was wahr ist und was nicht. Dass deshalb am Ende der Emotionskette nicht die Ohnmacht, nicht der Selbstschutz, sondern nur noch Wut übrig bleibt.
Blinde Wut, mit der wir uns gegenseitig anstecken. Die man in einem mediatisierten Krieg, wie jenem in Gaza, ausnutzen kann. Und tut.
Dass wir nur noch mit «bestimmten» Menschen mitfühlen können. Dass wir nicht mehr fähig sein werden, jenen, die nicht zu dieser Gruppe gehören, Menschlichkeit entgegenzubringen. Und dass wir ihnen ihre Menschlichkeit komplett absprechen. Die Gewalt an ihnen rechtfertigen.
So stossen wir die Gewaltspirale weiter an, anstatt sie anzuhalten.
Wut hat noch nie zu Frieden geführt. Für Frieden braucht es Empathie.
Damit wir unsere Empathie behalten, müssen wir darum als Erstes mehr Empathie mit uns selbst haben. Wir müssen auf unseren Körper hören, wenn er uns sagt, dass wir diese Informationen, diese Bilder, diese Nachrichten nicht ertragen. Und uns hinterfragen, wenn uns verstörende Bilder nicht mehr verstören. Denn:
Und es ist möglich, sich für Gerechtigkeit einzusetzen, ohne anderen ihre Menschenrechte abzuerkennen.
Dafür muss es aber auch möglich sein, sich zurückzuziehen, ohne dafür verurteilt zu werden, «keine Haltung zu beziehen». Es muss möglich sein, die eine Seite zu kritisieren, ohne sich gleich vorwerfen zu lassen, dass man die Gegenseite unterstützt. Es muss möglich sein, das Leid der einen anzuerkennen, ohne es mit dem Leid der anderen zu relativieren – oder gar: noch mehr Gewalt zu rechtfertigen.
Und es muss möglich sein, dass wir über Ohnmacht und Selbstschutz sprechen, bevor wir der gefährlichen Wut verfallen.
Besonders dafür:
„Es muss möglich sein, die eine Seite zu kritisieren, ohne sich gleich vorwerfen zu lassen, dass man die Gegenseite unterstützt. Es muss möglich sein, das Leid der einen anzuerkennen, ohne es mit dem Leid der anderen zu relativieren – oder gar: noch mehr Gewalt zu rechtfertigen.“
Das ist das Problem. In der Geschichte führte fast ausschliesslich Krieg zu Frieden... bis beide Seiten keine Lust mehr haben (aufgrund massiver Zerstörung und Leid auf beiden Seiten) oder eine Seite verloren hat.
Das ist das Ende der Spirale... war es schon immer.
Wir sind als Gesellschaft leider noch nicht so weit, dass wir innehalten können und uns darauf einigen, dass es vernünftig ist, aufzuhören.
Zumal es auf allen Seiten immer Leute gibt, die vom Leid anderer profitieren - die werden Frieden nicht einfach geschehen lassen.