Heute Abend wird in Hamburg die Elbphilharmonie eröffnet. Dass die Eröffnung eines derartigen Bauwerks nicht ohne grosse Worte auskommt, scheint klar. Es gibt ein dreiwöchiges Eröffnungsfestival. Der laut Angaben des Hauses «wohl wichtigste lebende deutsche Komponist» Wolfgang Rihm hat eigens für die Eröffnung ein Auftragswerk geschrieben. «Herausragende» Solisten sollen den Auftakt zu «vielen weiteren Sternstunden» bilden. Schon vor der Eröffnung wird das Haus angepriesen als «eines der weltbesten Konzerthäuser». Ausserdem wird «das neue Wahrzeichen Hamburgs» auf der Website von Hamburg-Tourismus als «Gebäude der Superlative» gerühmt.
Wer auch nur einen Bruchteil von allem liest, was in diesen Tagen über die Elbphilharmonie geschrieben wird, könnte sich fast klein fühlen. Zumindest, wenn er aus einem Land wie dem unseren kommt, in dem die Kultur mehrheitlich in Mehrzweckhallen, Festzelten und Kellerbühnen gepflegt wird. Und selbst der Umstand, dass der kulturelle Meilenstein in Hamburg von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron entworfen wurde, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass ein vergleichbares Projekt hierzulande wohl nie realisiert werden könnte. Zu gross wären die politischen Hürden, die ein derartiges Vorhaben nehmen müsste, um überhaupt ins Auge gefasst werden zu können. Die Schweiz hat zwar die Architekten, um solche Gebäude zu bauen. Sie hätte wohl auch die finanziellen Mittel, die Künstler und das Publikum, um es zu betreiben. Was hierzulande jedoch fehlt, ist das Selbstverständnis, etwas Vergleichbares wie die Elbphilharmonie überhaupt anzupacken.
Es widerspricht wohl einfach unserem nationalen Selbstverständnis, im Kulturbereich in solche Dimensionen vordringen zu wollen. Ob das zu bedauern oder zu begrüssen ist, können wir am ehesten beantworten, wenn wir der Frage nachgehen, welche Kultur wir wollen. Wollen wir eine Kultur mit Ausstrahlung in die Welt? Oder bevorzugen wir eine Kultur mit Ausstrahlung in die einzelnen Menschen?
1. Der alte Kaispeicher A mit seiner roten Backsteinfassade bildet den Sockel. Das ehemalige Lagerhaus wurde komplett entkernt. 2. Der grosse Konzertsaal bietet 2100 Plätze, kein Zuschauer ist weiter als 30 Meter vom
Dirigenten entfernt.
3. Der kleine Saal mit 550 Plätzen.
4. Hotel «The Westin Hamburg», 244 Zimmer und Suiten.
5. Westspitze mit 45 Apartments.
6. Die Orgel mit vier Manualen, 69 Registern, 2 Spieltischen und 5000 Pfeifen.
7. Die Tube ist eine 82 Meter lange, leicht gewölbte Rolltreppe.
8. Die Plaza auf 37 Metern Höhe ist frei zugänglich. Ein Aussenrundgang bietet Ausblick auf den Hafen und die Stadt.
9. Die Kaistudios: 150 Plätze für kleine Konzerte und Vorträge.
10. Der höchste Punkt der Elbphilharmonie: 26. Stock/ 110 Meter.
Wie seit vielen Jahren zu lesen war, ist die Entstehungsgeschichte des «architektonischen und kulturellen Wahrzeichens» der Stadt Hamburg eine Geschichte der Skandale sowie der Kosten- und Zeitüberschreitungen. Der Bau hätte gemäss ursprünglichen Plänen bereits 2010 fertigerstellt sein sollen. Es ist auch eine Geschichte politischer Streitigkeiten und gegenseitiger Schuldzuweisungen. Aber jetzt, da das Haus endlich steht, wird es mit Pomp in Betrieb genommen. Allen Schwierigkeiten und allen Kosten zum Trotz ist das einmalige Gebäude nun da. Und mit ihm ist ein Stolz verbunden, der ganz offensichtlich die Probleme der Planungs- und Bauphase verdeckt.
Dennoch bleibt die Frage im Raum, was so ein Monsterbau der überwiegenden Mehrheit der Kulturkonsumenten und Kulturschaffenden bringt. So selbstbewusst die regionale Berichterstattung auch klingen mag, so blumig das Stadtmarketing Hamburgs nun damit wirbt: Tatsache bleibt, dass die Elbphilharmonie den Alltag der Mehrheit der Hamburger Bevölkerung kaum verändern wird. Der grosse Konzertsaal hat 2100 Sitzplätze. Hamburg hat eine Einwohnerzahl von ungefähr 1.8 Millionen. Und selbst wenn jeder dieser Einwohner die Kosten der Elbphilharmonie auf die eine oder andere Weise mitträgt, wird nur immer ein Bruchteil der Bevölkerung an den kulturellen Segnungen des Hauses teilhaben. Das hat nicht nur mit den Ticketpreisen oder mit der musikalischen Bildung zu tun, sondern ganz einfach mit den kulturellen Vorlieben der Menschen.
Bestimmt haben Marketingfachleute bereits berechnet, wie der kulturelle, touristische oder psychologische Mehrwert der Investitionen längerfristig zu Buche schlägt. Und vielleicht können uns diejenigen Experten, die sich mit solchen Zahlen befassen, glauben machen, dass sich die Investitionen irgendwann lohnen werden. Trotzdem wird die Kultur im weiteren Sinn von einem solchen Grossprojekt höchstens marginal beeinflusst.
Wie überall auf der Welt spielt sich auch in Hamburg das kulturelle Leben in den kleinen Zellen ab. Kultur lebt immer auch in Jazzbars, in kleinen Bühnen, in Wirtshaussälen, in Aulen, in Bibliotheken, in Kirchgemeindehäusern, in Kellern, in Parks und auf der Strasse. Selbstverständlich gehören die grossen Häuser zum Kulturangebot einer Stadt. Aber sie machen die kulturelle Lebendigkeit der jeweiligen Orte nie allein aus. Viel eher ist zu befürchten, dass ein Haus wie die Elbphilharmonie langfristig finanzielle Mittel bindet, die anderswo fehlen. Bekanntlich leben wir in Zeiten erhöhten Spardrucks bei der öffentlichen Hand.
Wenn gespart wird, ist es immer einfacher, kleinen Institutionen wie Kunstvereinen, Gemeindebibliotheken oder Musikschulen das Geld zu streichen, als einem Haus von internationalem Rang. Dabei sind es meist solche Institutionen, die niederschwellige Kulturangebote am Leben erhalten. Das kulturelle Leben einer Mehrheit der Bevölkerung spielt sich an Orten ab, die weniger nach aussen als nach innen strahlen. Das mag wenig Prestige generieren. Aber es bereichert den Alltag von vielen.
So betrachtet können wir in der Schweiz fast froh sein, wenn unsere weitverbreitete Ängstlichkeit, unsere föderalistischen Strukturen oder unsere historisch gewachsene Skepsis vor Gigantismus uns daran hindern, ähnliche Leuchttürme des Kulturlebens ins Auge zu fassen wie die Elbphilharmonie in Hamburg.