Der demokratische Vorzeigekontinent Europa hinterlässt derzeit einen ziemlich instabilen Eindruck. Zwar konnte die neue EU-Kommission wie geplant ihre Arbeit am 1. Dezember aufnehmen. Doch ausgerechnet Deutschland und Frankreich, die lange den «Motor» der europäischen Einigung bildeten, sind politisch angeschlagen.
Gleiches gilt für Österreich, womit die Schweiz – klammert man den «Sonderfall» Liechtenstein aus – auf drei Seiten von Ländern umgeben ist, die mehr oder weniger lahmgelegt sind. Ein direktes Problem besteht nicht, dafür sind die politischen und rechtsstaatlichen Leitplanken zu solide. Aber auf Dauer ist dieser Zustand unhaltbar.
Vor einem Monat ist die kriselnde Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP mit Getöse zerbrochen. Seither ist in Berlin eine rotgrüne Übergangsregierung im Amt, bis zu den Neuwahlen am 23. Februar 2025. Am 16. Dezember wird Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage stellen und den Weg dafür formell freimachen.
So weit, so geordnet. Ob danach rasch eine stabile Regierung gebildet werden kann, ist jedoch offen. Die Unionsparteien mit Kanzlerkandidat Friedrich Merz liegen in den Umfragen deutlich an der Spitze. Die SPD zieht erneut mit dem unpopulären Scholz in den Wahlkampf, und nicht mit dem weitaus beliebteren Verteidigungsminister Boris Pistorius.
Es ist unklar, wie viele Fraktionen im nächsten Bundestag vertreten sein werden. FDP, Linke und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) könnten an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern und auf Direktmandate angewiesen sein. Das macht die Regierungsbildung unkalkulierbar, auch wenn eine «grosse» Koalition von CDU/CSU und SPD im Vordergrund zu stehen scheint.
Eine erneute Dreierallianz will nach den Erfahrungen mit der Ampel eigentlich niemand. Falls es die «Wackelparteien» schaffen sollten, droht jedoch dieses Szenario, denn mit der rechtsradikalen AfD will niemand koalieren. Dabei wäre Deutschland mit seiner angeschlagenen Wirtschaft dringend auf stabile Verhältnisse angewiesen.
Die einstige Grande Nation ist derzeit ein politischer Hühnerhaufen. Am Mittwoch wurde die Mitte-rechts-Regierung von Ministerpräsident Michel Barnier nach nur drei Monaten durch ein Misstrauensvotum der linken und rechten Opposition in der Nationalversammlung gestürzt. Vordergründig ging es dabei um das Staatsbudget für das kommende Jahr.
Frankreichs Schuldenlast ist seit der Corona-Pandemie regelrecht explodiert, auf mehr als drei Billionen Euro. Barnier warnte vergeblich vor griechischen Verhältnissen. Wie es weitergeht, ist unklar. Im Parlament stehen sich die drei grossen Blöcke gegenseitig im Weg, und Neuwahlen sind gemäss der Verfassung erst im nächsten Sommer möglich.
Viele geben die Schuld an der verfahrenen Lage dem unpopulären Präsidenten Emmanuel Macron. Er muss einen neuen Regierungschef finden, der eine Mehrheit im Parlament zusammenbekommt. Macron will sich am Donnerstagabend im Fernsehen an die Bevölkerung wenden. Den von einer Mehrheit geforderten Rücktritt wird er kaum verkünden.
Dazu zwingen kann ihn niemand, doch die radikale Linke und Rechte fordern vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Besonders daran interessiert ist Marine Le Pen, die Chefin des rechtsradikalen Rassemblement National. Ihr droht ein fünfjähriges Politikverbot wegen der Veruntreuung von EU-Geldern. Von Stabilität ist Frankreich weit entfernt.
Am 29. September fanden im östlichen Nachbarland Nationalratswahlen statt, doch noch steht die neue Regierung nicht. Grosse Siegerin war die rechte FPÖ. Nach Konsultationen mit allen Parteien stellte der grüne Bundespräsident Alexander Van der Bellen jedoch fest, dass niemand mit dem umstrittenen FPÖ-Chef Herbert Kickl zusammenarbeiten will.
Er erteilte entgegen den Gepflogenheiten dem bisherigen Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) den Auftrag zur Bildung einer Regierung. Seit Mitte November wird über ein Bündnis von ÖVP, SPÖ und der liberalen Neos verhandelt. Vielen in der ÖVP behagt dies nicht. Sie wollen trotzdem die FPÖ als Regierungspartner, wie in mehreren Bundesländern.
«Ein breites Bündnis der Mitte kann die Stabilität bieten, die Österreich jetzt dringend benötigt», kontert Nehammer. Sein Land ringt wie Frankreich mit einem hohen Defizit und wie Deutschland mit einer schwächelnden Wirtschaft. Zuletzt traf es den Motorradhersteller KTM, und auch der Kollaps von René Benkos Immobilienimperium ist nicht «verdaut».
Man hat derzeit den Eindruck, in einer «verkehrten» Welt zu leben. Denn Italien war einst ein Synonym für politische Instabilität. Länger als ein Jahr hielt sich kaum eine Regierung. Und heute? Ist die rechtskonservative Koalition von Giorgia Meloni seit mehr als zwei Jahren im Amt. Der Ministerpräsident (Meloni beharrt auf der männlichen Bezeichnung) strebt die volle Amtszeit von fünf Jahren an.
Das vermeintliche «Leichtgewicht» aus Rom hat alle ausmanövriert, auch «Machos» wie Lega-Chef Matteo Salvini. In den Umfragen liegt Melonis Partei Fratelli d’Italia klar an der Spitze, vor dem linken Partito Democratico (PD). Zuletzt konnte sie ihren Vertrauten Raffaele Fitto gegen Widerstand von links als Vizepräsident der EU-Kommission installieren.
Aussenpolitisch fährt sie einen proeuropäischen und transatlantischen Kurs. Deutlich kontroverser sind ihre Vorhaben im Inland. Das geplante Flüchtlingslager in Albanien wurde vorerst gestoppt. Auch will Meloni die galoppierende Verschuldung eindämmen, weshalb es zuletzt zu einer Kraftprobe mit den Gewerkschaften kam. Sie dürfte auch daraus unbeschadet hervorgehen.
Aus Sicht der vermeintlich superstabilen Schweiz könnte man über dieses Chaos spotten, doch das wäre kurzsichtig. Dafür sind unsere Nachbarländer zu wichtig, auch wirtschaftlich. Die Bremsspuren in der deutschen Industrie machen sich bei unseren Partner- und Zulieferfirmen bemerkbar. Sie klagen über mangelnde Aufträge und beantragen Kurzarbeit.
Fragen sollte man sich auch, wie vorbildlich wir mit unserem Konkordanzsystem noch sind. Die bürgerlichen Mehrheiten in Bundesrat und Parlament spielen ihre Macht immer schamloser aus. Auf der anderen Seite setzt sich Linksgrün in Volksabstimmungen durch, was früher fast undenkbar war. Ganz so stabil sind die Verhältnisse auch bei uns nicht mehr.
Da hat die Linke gerade mal eine Abstimmung gewonnen, nämlich die betreffend Autobahnausbau und die verlorene EFAS Abstimmung wird grosszügig unterschlagen und schon wähnt man sich im Hoch bzw. redet unser System instabil. Wohl eher nicht.