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Ukraine: 100 Kulturschaffende appellieren an den Bundesrat

100 Kulturschaffende appellieren an den Bundesrat – das sind ihre Forderungen

Die Schweizer Kulturschaffenden schweigen nicht länger. In einem Aufruf an den Bundesrat wollen sie «entschiedenes Vorgehen gegen die Kriegsfinanzierung aus der Schweiz». Sie erheben drei konkrete Forderungen.
04.04.2022, 09:4204.04.2022, 11:24
Othmar von Matt / ch media
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Eine von 100: Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji.
Eine von 100: Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji.Bild: IMAGO / teutopress

Sie macht mit am Aufruf, weil das Festhalten an der Neutralität in einer solchen Situation «fatal» sei, sagt Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji. «Das kann man moralisch, politisch und historisch nicht verantworten.»

Schriftsteller Jonas Lüscher wiederum betont, die Lage sei «ganz, ganz dramatisch»: «Da wird gerade eine Nation, notabene eine Demokratie, vernichtet, Millionen müssen ihr Land verlassen.»

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Schauspieler und Verleger Patrick Frey beteiligt sich, weil er die Reaktion der offiziellen Schweiz auf den Krieg in der Ukraine als «vollkommen unzulänglich» empfindet. «Sie will wieder einmal abwarten und Zeit gewinnen.»

Nadj Abonji, Lüscher und Frey sind drei von 100 Schweizer Kulturschaffenden, die sich einem zivilgesellschaftlichen Aufruf an Bundesrat und Parlament angeschlossen haben. «Es braucht jetzt ein entschiedenes Vorgehen gegen die Kriegsfinanzierung aus der Schweiz!», heisst es im Aufruf.

Jonas Lüscher sieht sich selbst als Autor engagierter Literatur. Doch Gesellschaftskritik und Engagement äussern sich bei ihm weniger darin, was er erzählt, sondern mehr, wie er erzählt. (Archivbild)
Schriftsteller Jonas Lüscher nennt die Situation «ganz, ganz dramatisch».Bild: KEYSTONE

Adolf Muschg, Lukas Bärfuss und Xavier Koller haben unterschrieben

Unterschrieben haben den Aufruf Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Adolf Muschg, Lukas Bärfuss, Monique Schwitter, Pedro Lenz und Klaus Merz. Aber auch Filmemacherinnen und Filmemacher wie Samir, Stina Werenfels, Xavier Koller, und Barbara Miller. Und Kabarettisten und Satirikerinnen wie Emil Steinberger, Viktor Giaccobo, Karpi (Patrick Karpiczenko), Franz Hohler und Rebekka Lindauer.

Dreh- und Angelpunkt des Aufrufs ist Filmemacher Samir. Schon am 5. März schrieb er in der «Schweiz am Wochenende» und auf Twitter, der Bundesrat müsse eine Taskforce zusammenstellen. Er solle russische Handelsaktivitäten in der Schweiz blockieren «und die hier parkierten 150 Milliarden einfrieren».

«Auf diesen Aufruf erhielt ich viel Feedback, wie etwa von Karpi und von Patrick Frey», sagt er. Daraus ergab sich ein Appell grösseren Ausmasses. Er sei «urwüchsig» entstanden, hält Samir fest, «sozusagen aus sich selbst heraus». Das habe er zum ersten Mal in dieser Art erlebt. «Social Media, vor allem Twitter, spielte dabei eine wichtige Rolle. Die Kulturschaffenden sind dort sehr gut vernetzt.»

Auch viele junge Kunstschaffende machen mit

Der Text entstand in einem Prozess mit allen Kulturschaffenden. Schriftsteller Lüscher schrieb den Text, Publizist Roger de Weck korrigierte ihn und schickte ihn weiter. «Besonders schön ist, dass so viele junge Kunstschaffende mitmachen - wie die Schauspielerinnen Ella Rumpf und Luna Wedler oder Serien-Regisseurin Lisa Brühlmann», sagt Samir. «Das hat mich überrascht.» Eine wichtige Rolle spielte der Filmpreis, den die Schweizer Filmakademie am Freitag vergab. Samir konnte dort viele Filmschaffende für den Aufruf gewinnen. «Viele machten gleich mit.»

epa09753627 Swiss actress Luna Wedler attends a press conference for 'Der Passfaelscher' (The Forger) during the 72nd annual Berlin International Film Festival (Berlinale) in Berlin, Germany ...
Luna Wedler fordert auch ein Vorgehen gegen Russland.Bild: keystone

Die Dringlichkeit, sich pointiert zum Ukraine-Krieg zu äussern, ist hoch. «Die Empörung bei den Kulturschaffenden ist gross», sagt Schauspieler Frey. Noch schlimmer aber sei «das Gefühl von Scham», weil sich die Schweiz wieder einmal «hinter einer schwammigen Form von Neutralität versteckt».

Es gehe um viel, sagt Schriftstellerin Nadj Abonji. «Philosoph Dante sagte, der heisseste Platz in der Hölle sei für jene bestimmt, die in Zeiten der Krise neutral bleiben.» Wenn sie sehe, was der Krieg für demokratische Länder, die Ukraine und die Gesellschaft überhaupt bedeute, sei es sehr wichtig, dass Kulturschaffende Stellung beziehen würden: «Wir stellen grundlegende und ethische Fragen. Und eine Ästethik ohne Ethik ist für mich undenkbar.»

Drei Forderungen stehen im Raum

Die 100 Kulturschaffenden stellen in ihrem Appell drei Forderungen auf:

  1. Taskforce: Der Bundesrat soll eine Taskforce einsetzen, die komplexe Vermögensstrukturen aufdecke. «Eine Meldepflicht allein reicht nicht aus», heisst es. «Andere Länder machen es vor.»
  2. Rohstoffhandel: Der russische Rohstoffhandel soll nicht mehr weiter ungestört über die Schweiz fliessen «und die Kriegskassen Putins» füllen. «Sorgen Sie dafür», heisst es an die Adresse des Bundesrats.
  3. Gas und Öl: «Arbeiten Sie daran», steht weiter im Aufruf, dass die Schweiz so schnell wie möglich unabhängig werde von russischem Gas und Öl.

Die Kulturschaffenden anerkennen zwar die Leistungen der Schweiz im Krieg. Sie habe «schnell und grosszügig» humanitäre Hilfe geleistet. Zudem sei es «richtig und wichtig» gewesen, die wirtschaftlichen Sanktionen zu übernehmen. Doch jetzt müsse der Bundesrat entschieden handeln - und «im Namen der Menschlichkeit und der Verteidigung der Demokratie»: «Sorgen Sie dafür, dass die Schweiz mit aller nötigen Kraft die Finanzierungsnetzwerke des Putin-Regimes austrocknet.»

«Die Demokratie ist enorm bedroht»

Für Schriftsteller Lüscher steht viel auf dem Spiel. «Was in der Ukraine geschieht, ist entscheidend für die nächsten Dekaden», sagt er. Komme Russlands Präsident Putin mit seinem Vorgehen davon, werde die gesamte geopolitische Lage instabil. «Was soll dann die Chinesen noch davon abhalten, in Taiwan einzumarschieren. Die Faschisten, auch im Westen, werden Frühlingsgefühle verspüren», sagt er. «Der Militarismus und der unsägliche Heroismus werden sich zurückmelden. Die Demokratie ist enorm bedroht.»

Für Kabarettist Frey taucht der Zweite Weltkrieg wieder auf. «Wir wissen, was die Schweiz im Dritten Reich nicht getan hat», sagt er. «Und wir möchten, dass sich die Schweiz für einmal wirklich anständig verhält.»

Der Bundesrat selbst dürfte sich schon am Mittwoch erneut mit Sanktionsfragen beschäftigen. Zwei internationale Taskforces beschäftigen sich heute bereits mit der Umsetzung der Sanktionen: eine der Europäischen Kommission und eine der G7-Staaten. Die Schweiz ist in beiden Gruppen vertreten. (aargauerzeitung.ch)

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51 Kommentare
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Vision2060
04.04.2022 10:02registriert April 2021
Wenn ich den Rundschau Bericht ansehe mit dem Finanzdirektor von Zug, dann wird in der Schweiz von unseren Gewählten und Verantwortlichen nicht viel kommen. Viel reden und beobachten und dann weg ducken. Das gleiche Spiel wie im 2. WK. Wann merkt der Schweizer Bürger das endlich?
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Pfammi
04.04.2022 10:01registriert Juli 2015
Einfach vorwärts machen. Massnahmen haben ihren Preis, aber je später desto grösser werden die Schäden.
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