Herr Mona, was war ihre erste Reaktion auf das Urteil gegen Lisa Bosia Mirra?
Marco Mona: Bei allem Respekt vor den Aufgaben des Strafgerichts, die keine leichte ist: Bosia Mirra hat gegen das Gesetz verstossen und das auch nie bestritten. Aber das Gericht hatte in diesem Fall einen grossen Spielraum und hat davon keinen Gebrauch gemacht. Die Staatsanwältin sagte bei der Anklage, dass Bosia Mirras Handeln keine humanitären Beweggründe zugrunde liegen würde. Der Richter bestätigte heute jedoch vor Gericht, dass die Angeklagte sehr wohl aus humanitären Beweggründen gehandelt habe. Trotzdem folgte er beim Strafmass vollumfänglich dem Antrag der Staatsanwältin. Das kann ich nicht verstehen.
Vielleicht war Bosia Mirra vor Gericht einfach zu wenig überzeugend.
Das glaube ich nicht. Sie schilderte vor Gericht eindrücklich und in aller Klarheit, wie dramatisch die Situation der unbegleiteten, jugendlichen, meist eritreischen Flüchtlinge in Como im letzen Sommer war. Ich würde eine 15-jährige Tochter keine halbe Stunde alleine am Bahnhof von Como lassen. Bosia Mirra hat diesen Jugendlichen geholfen, nach Deutschland zu ihren Familien zu kommen. Wie sie es formulierte: «Wer durchgemacht hat, was diese Jugendlichen erlebt haben, der muss nach Hause zur Familie dürfen.»
Welche Folgen wird dieses Urteil haben?
Die Diskussion über den Fall ist sehr kontrovers, inbesondere hier im Tessin, das ist mir bewusst. Ein weniger harsches Urteil hätte allenfalls die Möglichkeit geboten, etwas Ruhe in die Diskussion zu bringen.
Wie geht es Frau Bosia Mirra?
Sie ist betroffen darüber, dass das Urteil so ausgefallen ist. Sie ist sich jetzt am Überlegen, ob sie die Argumentation der Urteilsschrift so hinnimmt. Die Grundlagen für einen Rekurs wären vorhanden. Es hängt davon ab, ob Bosia Mirra nochmals die Kraft aufbringt für einen Weiterzug. Das ist ihre Entscheidung
Anklage und Verteidigung erklärten die Angelegenheit zum Präzedenzfall. Welche Symbolwirkung hat das Urteil?
Die Frage ist, ob jemand aus einer Gewissensnot heraus gegen das Gesetz verstossen darf, ist sehr alt. Bereits in der Antike wurde sie gestellt, etwa von Antigone. Vor der Einführung des Zivildienstes wurde dieselbe Frage etwa von den Wehrdienstverweigerern gestellt – sie wurden meist verurteilt. Hier im Tessin ist der Fall des Pfarrers Guido Rivoir sehr bekannt, der in den 70er Jahren chilenische Flüchtlinge über die Grenze brachte. Er tat also genau dasselbe, wie heute Bosia Mirra. Rivoir wurde freigesprochen.
Wird es in der Schweiz zu weiteren Prozessen gegen Fluchthelfern kommen?
Das ist schwierig zu sagen. Die Lage in Como hat sich im Vergleich zum letzen Sommer auf jeden Fall entspannt. Aber die Situation für Flüchtlinge in Italien ist weiterhin ausserordentlich prekär. Erhält ein Flüchtling in Italien Anspruch auf Asyl, steht er am Tag nach dem positiven Bescheid ohne jegliche staatliche Unterstüzung auf der Strasse. Die Situation der Menschen im Asylprozess ist nicht besser. Im Hotspot im apulischen Taranto etwa herrschen gemäss Berichten von Amnesty International unhaltbare Verhältnisse, auch ein Bericht der staatlichen Kommission für die Rechte von Gefangenen ist kritisch. Italien ist momentan schlicht nicht in der Lage, die Situation zu verbessern. Deshalb werden Flüchtlinge weiterhin versuchen, aus diesen unmenschlichen Zuständen in den Norden zu fliehen.