Herr Stojanović,
fühlen sie sich im Bundesrat vertreten?
NENAD STOJANOVIĆ: Ja.
Tatsächlich? Sie sind Tessiner und
haben einen Migrationshintergrund – damit gehören sie gleich zu
zwei Gruppen von Minderheiten, die im Bundesrat selten vertreten
sind.
Wenn ich möchte, dass alle meine Identitätsmerkmale im Bundesrat repräsentiert sind, dann sollte ich mich selber wählen lassen. Nur dann hätte ich eine perfekte Vertretung. Ich fühle mich aber dennoch vertreten, da es ein paar Bundesräte gibt, mit deren Politik ich mich mehr oder weniger identifizieren kann.
Ist es also ganz egal, wenn eine
Regierung und das Parlament nicht die Gesellschaft widerspiegelt?
Über diese Frage wird in Demokratien schon seit ein paar Jahrhunderten debattiert. Neben den Vertretern, die sagen, dass die politischen Institutionen ein Spiegel der Gesellschaft sein sollen, gibt es andere, zu denen auch ich zähle. Wichtig ist, dass die unterschiedlichen Interessen im Parlament und eventuell auch in der Exekutive vertreten sind – unabhängig vom Geschlecht, Alter oder Ethnie der Person, die diese Interessen vertritt.
Dann macht es also nichts, dass erst
7 Tessiner und 7 Frauen in den Bundesrat gewählt wurden?
Das habe ich nicht gesagt. Wenn gewisse Gruppen der Gesellschaft im Parlament und der Regierung systematisch nicht vertreten sind, ist dies ein mögliches Zeichen dafür, dass sie im Laufe des Verfahrens diskriminiert wurden. Das muss uns Sorgen machen, weil wenn dies der Fall ist, wird das Prinzip der Chancengleichheit verletzt und die Institutionen haben bald ein Legitimationsproblem. Ich bin schon der Meinung, dass alle Gruppen Zugang in die Regierung finden sollen. Aber meine Antwort sind nicht Quoten, sondern ich befürworte indirekte Wege.
Wie sehen diese aus?
Die Parteileader sind in der Verantwortung. Sie müssen sicherstellen, dass jedes Parteimitglied dieselben Chancen bekommt. Doch sie sollen nie öffentlich kommunizieren, dass sie jemanden fördern, zum Beispiel weil er Tessiner ist. Denn ein Tessiner, den man offiziell wegen seiner Herkunft fördert, wird als Quoten-Politiker abgestempelt und wird damit nie die Legitimität haben, die er ansonsten hätte haben können.
Aber dann müssen Sie ja vom
jetzigen Wahlkampf genervt sein. Maudet sagt, er will die
U-40-Generation vertreten, Moret argumentiert, dass eine Mutter im
Bundesrat gut tun würde und Cassis wirbt mit seiner Tessiner
Herkunft.
Natürlich, aber mich nerven weniger die Kandidaten selber. Denn sie spielen ein Spiel, das von anderen bestimmt wird. Ich bemerke etwas anderes: In diesem Land ist es Mainstream, dass ein Deutschschweizer Mann gewählt wird. Und dann sagt niemand, Schneider-Ammann wurde gewählt, weil er ein Deutschschweizer ist oder weil er ein Mann ist. Sondern weil er ein erfolgreicher Unternehmer ist. Doch sobald eine Frau oder ein Tessiner zur Wahl steht, heisst es sofort, sie werden wegen ihres Geschlechtes bzw. Muttersprache bevorzugt. Das ist unfair.
Damit sprechen sie auf
Bundesratskandidat Cassis an, der schon mehrmals als Quoten-Tessiner
betitelt wurde.
Ich will jetzt
nicht für Cassis sprechen, ich war persönlich eher für Laura
Sadis. Aber ich finde es jetzt doch ungerecht, bei Cassis zu sagen, er
stehe nur zur Wahl, weil er Tessiner ist. Er hat eine lange
politische Laufbahn hinter sich, während dieser er schon mehrmals
bewiesen hat, dass er fähig ist. Sonst wäre er nie
Fraktionspräsident der FDP geworden. Dass man ihn jetzt auf seine
Tessiner-Herkunft reduziert, finde ich arrogant. Vielen
Deutschschweizer ist gar nicht bewusst, wie verletzend das sein kann.
Werden Tessiner im politischen
Prozess von den Deutschschweizern diskriminiert?
In einer Studie musste ich als Forscher leider feststellen, wenn wir von Bundesratswahlen in den letzten beiden Jahrzehnten sprechen, dass die italienischsprachigen Kandidaten nicht die gleichen Chancen hatten. Sie wurden von Anfang an wegen ihrer Sprache ausgeschlossen. Die Parteien wählten lieber Personen aus der Deutsch- oder Westschweiz. Nehmen wir als Beispiel die SP, also meine Partei. Als Ruth Dreifuss 2002 zurücktrat war die offizielle Stellung der damaligen Parteileitung, insbesondere der Präsidentin Christiane Brunner, den Sitz muss eine Frau aus der Romandie bekommen. In den folgenden Jahren haben dann verschiedene Parteileaders, wie die Fraktionschefin Ursula Wyss oder der Generalsekretär Reto Gamma, öffentlich gesagt, den Sitz von Moritz Leuenberger soll jemand aus der Deutschschweiz kriegen. Nun frage ich Sie: Wie kann eine solche Haltung nicht diskriminierend gegenüber den italienisch- und rätoromanischsprachigen Sozialdemokraten sein?
Ist es für Schweizer Parteien gar
nicht attraktiv, einen Tessiner Bundesrat zu haben?
Tatsächlich ist dies die Wahrnehmung
von vielen Politologen und Politiker, dass ein Tessiner Bundesrat die
Wahlerfolgschancen einer Partei schmälert. Ob das aber tatsächlich
so ist, bezweifle ich. Man darf die mediale Wirkung eines Bundesrats
nicht überschätzen. Vor allem weil ja nur die wenigsten Bürger
überhaupt die Bundesräte kennen. Beispiel Guy Parmelin. Viele
Politologen dachten, dass seine Wahl gut für die SVP in der
Westschweiz ist. Und was stellt man heute fest? Es gibt keinen
Parmelin-Effekt, im Gegenteil. Die SVP verliert in den
französischsprachigen Regionen Wähler – im Wallis, in Fribourg, in Neuenburg und sogar im Waadtland.
In der Bundesverfassung ist
festgehalten, dass die Sprachregionen angemessen im Bundesrat
vertreten sein müssen. Sie fordern, dass dieser Artikel ersatzlos
gestrichen wird. Warum?
Es ist völlig falsch, dass die einzelnen Sprachregionen nur dann angemessen vertreten sind, wenn jemand von ihnen im Bundesrat sitzt. Die logische Schlussfolgerung wäre dann, dass Simonetta Sommaruga nur die Deutschschweizer, und zwar alle Deutschschweizer, vertritt. Das ist völlig absurd. Es ist die Aufgabe des Bundesrats, das ganze Land zu vertreten. Wenn schon sollen sie das Programm oder mindestens die Grundwerte eigener Partei vertreten. Dazu kommt noch, dass der Bundesverfassungs-Artikel inhaltlich so schlecht gemacht wurde, dass es nicht zu glauben ist. Eine komplette Fehlkonstruktion.
Wieso?
Der Artikel hat in allen offiziellen Sprachen eine unterschiedliche Bedeutung. Auf Deutsch klingt es wie eine Empfehlung. Wenn man diesen Artikel nun aber auf Italienisch oder Französisch liest, bekommt man den Eindruck, die verschiedenen Sprachen müssen immer im Bundesrat vertreten sein. Seit 1999 dürfen also Tessiner zwangsläufig denken, dass die Verfassung nicht respektiert wird.
In dieser Frühlingssession reichte
Maya Graf einen Vorstoss ein, der fordert, dass neben Sprachregionen
auch die Geschlechter in den Artikel aufgenommen wird. Was halten sie
davon?
Dafür habe ich viel Verständnis, aber die Logik der heutigen Klausel ist eine andere. Ihre Befürworter glauben, dass es für den nationalen Zusammenhalt wichtig ist, wen die verschiedenen geographischen bzw. sprachlichen Regionen im Bundesrat angemessen vertreten sind. Frauen und andere Gruppen – Junge, Secondos, Leute mit einem Handicap usw. – sind selbstverständlich nicht geographisch konzentriert. Ein wenig zugespitzt gesagt, es besteht bei ihnen keine Gefahr, dass sie sich plötzlich von der Schweiz abspalten.
Woran liegt es, dass bisher nur
sieben Frauen zur Bundesrätin gewählt wurde?
Es gibt mehrere Erklärungen. Erstens findet man allgemein weniger Frauen als Männer in der Politik, also konkret dort wo die meisten Papabili für den Bundesrat sitzen – im Bundesparlament und in den kantonalen Exekutiven. Zweitens gab es früher Männer aber auch Frauen, die sagten, Frauen können es weniger gut. Das ist natürlich völlig absurd, aber prägt wohl noch immer einzelne Parlamentarier. Es müssen nicht unbedingt viele sein: Bei Bundesratswahlen sind oft eine bis zwei Stimmen entscheidend. Und drittens ist es eine Tatsache, dass viele Politiker mehr Frauen in der Regierung fordern und trotzdem letztendlich jene Person wählen, die ihnen politisch näher steht. Ganz unabhängig davon, ob sie eine Mann oder eine Frau ist.
Haben Sie Beispiele?
2000, Nachfolge Adolf Ogi. Auf dem Ticket stehen Roland Eberle und Rita Fuhrer. Die gesamte Linke unterstützt zuerst einen nicht offiziellen Kandidaten, Ulrich Siegrist. Nachdem dieser ausgeschieden ist, wählt sie einen anderen nicht offiziellen Kandidat, Samuel Schmid. Gesamterneuerungswahlen 2003: Christoph Blocher schlägt Ruth Metzler, die in der nächsten Runde gegen den Parteikollegen Joseph Deiss antritt. Die Linke wählt geschlossen Joseph Deiss. Obwohl man mit Metzler die zweite Bundesrätin verliert und somit nur noch eine Frau in der Regierung verbleibt. Die Wahl von Johann Schneider-Ammann anstatt Karin Keller-Sutter im Jahr 2010 ist ein weiteres Beispiel. Hinter der Quoten-Forderung verbirgt sich also ganz viel Heuchelei. Es ist nicht konsequent, wenn man sich über zu wenig Frauen beklagt, aber den Mann wählt, nur weil er politisch ein wenig linker steht.
Wird sich dies jemals ändern?
Das wird immer so sein. Die Politik ist die Vertretung von Interessen. Doch häufig nimmt man deskriptive Merkmale, wie die angemessene Vertretung der Geschlechter, als Vorwand um andere Ziele zu erreichen. Im Vordergrund stehen politische Interessen, Machtkalküle und persönliche Ambitionen. Sehr oft ist selbst die Parteileitung nicht neutral. Wie heute Petra Gössi. Warum machte die FDP-Präsidentin jetzt nicht Druck, ein reines Frauenticket ins Rennen zu schicken?
Weil sie selber Bundesrätin werden
möchte?
Die Antwort haben Sie gegeben. Wenn heute eine Frau gewählt wird, dann kommen in zwei Jahren wieder die Männer bei der FDP dran. Und wenn jetzt ein Mann gewählt ist, könnte es zu einem Frauen-Zweierticket kommen. Ich gehe davon aus, dass gut 80 Prozent der Parlamentarier selber Bundesrat werden wollen.
Zum Schluss, ein Vorausblick auf die
Wahlen: Wird Cassis gewählt, oder wird das Tessin wieder übergangen?
Stand heute gehe ich davon aus, dass die Chancen für Cassis bei 80 Prozent stehen. Ich habe noch nie in der Öffentlichkeit der Deutsch- und der Westschweiz so viele Stimmen vernommen, die sich für einen Tessiner Bundesrat aussprechen. Doch es werden noch andere Argumente eine Rolle spielen, wie das Geschlecht. Dieses dürfte für die Linken der Vorwand sein, um Moret zu wählen, weil sie im Vergleich zu Cassis vielleicht ein bisschen weniger rechts steht.