In der Schweiz stagniert die Impfquote momentan bei rund 50 Prozent. Das ist zu wenig, um das Coronavirus wirkungsvoll einzudämmen. Frau Biller-Andorno, wie animiert man die Leute, sich zu impfen?
Nikola Biller-Andorno: Sie sagen, 50 Prozent sei zu wenig, aber ich sehe das positiver. Vor einem Jahr hätte niemand erwartet, dass die Hälfte der Bevölkerung heute geimpft sein wird. Dass wir das geschafft haben, setzt ein hohes Mass an Vertrauen in die Institutionen, den Impfstoff und die Zulassungsbehörden voraus. Zudem braucht es eine gute Organisation. In der Schweiz kann sich heute jeder, der will, impfen lassen. Das ist ein grosses Privileg und in vielen Ländern ganz anders. Diese Tatsache sollten wir bei dieser Debatte miteinbeziehen.
Wer sich nicht impfen lässt, ist sich seines Privilegs nicht bewusst genug?
Denken Sie an die Diskussionen, als der erste Impfstoff in die Schweiz geliefert wurde. Da ging es los mit Fragen wie: Wer kommt zuerst dran? Wer wird benachteiligt? Dann gab es ein paar VIP, die sich schneller Zugang zur Impfung verschafft haben. Vielleicht lohnt es sich, an diese Zeit der Knappheit zurückzudenken und zu überlegen, ob man sich wirklich nicht impfen lassen will. Man sollte sich fragen: Wie würde ich denken, wenn die Impfung ein knappes Gut wäre?
Ist es nicht vielmehr so, dass wer sich jetzt nicht impft, dies aus Überzeugung tut? Können solche Leute überhaupt noch zum Umdenken bewegt werden?
Der Prozentsatz jener, die sich aus ideologischen Gründen nicht impfen lassen wollen, ist relativ klein. So klein, dass er beim Schutz der Bevölkerung vor der Pandemie nicht ins Gewicht fällt. Hingegen gibt es nach wie vor viele, die unsicher sind. Und hier bin ich der Meinung, dass die Aufklärungsarbeit noch nicht ausgereizt ist. Auf der Homepage des BAG sind sieben Gründe formuliert, sich impfen zu lassen. Diese guten Gründe müssten noch wesentlich aktiver und zielgerichteter in die Bevölkerung getragen werden.
Sie denken, gute Argumente reichen?
Ja. Jede und jeder muss für sich eine Nutzen-Risiko-Abwägung machen, wobei sehr viel für die Impfung spricht. Der Impfstoff ist sehr gut und entspricht unseren Sicherheitsstandards. Man schützt sich vor einer Erkrankung und vor einem allfälligen schweren Verlauf. Die Impfung macht uns – nach allem, was wir wissen – auf eine sehr sichere Art und Weise immun gegen Covid-19. Es kann sein, dass man sich danach ein paar Tage nicht gut fühlt, aber im Vergleich mit einer Erkrankung am Coronavirus ist es wesentlich angenehmer und ungefährlicher.
Was macht Sie so sicher, dass wenn die Leute einfach nur genug nachdenken, sie schon zum richtigen Schluss kommen?
Ich denke, die meisten Leute werden irgendwann erkennen, dass es für sie mehr Vorteile hat, wenn sie geimpft sind. Und diese Erkenntnis bringt mehr, als jetzt zu drängen und Druck aufzubauen. Auch wenn das Impftempo jetzt etwas gedrosselt ist, bin ich zuversichtlich, dass das wieder an Fahrt aufnimmt. Gerade nach den Sommerferien, wenn es auf den Herbst zugeht, die nächste Welle kommt und die Leute sehen, dass mit den geimpften Personen nichts Schlimmes passiert ist.
Könnte eine Belohnung für die Impfung eine zusätzliche Motivation sein?
Wenn man ein gutes Produkt hat, braucht man die Leute nicht zu zwingen, es zu kaufen. Dann spricht sich rum, dass es gut ist. Dass es sicher ist. Mir ist diese Strategie lieber als die Impfung mit Anreizen zu versehen. Jeder checkt, dass das auch eine Art indirekter Druck ist. Und dann ist die Gefahr gross, dass es zu einer Polarisierung kommt. Dann hat man diejenigen, die von Anfang an skeptisch waren und sich bestätigt fühlen. Diese Dynamik ist unnötig und kontraproduktiv.
Aber haben wir wirklich Zeit zu warten, bis es auch die Letzten verstanden haben? In der Zeit verbreitet sich das Virus weiter, mutiert und bringt vielleicht auch bereits geimpfte Personen in Gefahr.
Ich versteh' das Anliegen, die Pandemie hinter sich lassen zu wollen. Aber selbst mit einer sehr hohen Impfbereitschaft bleiben viele Fragen ungeklärt. Es kann immer noch sein, dass dann vom Ausland Mutationen eingeschleppt werden, gegen die die Impfungen nicht gut wirken. Doch bleiben wir im Hier und Jetzt. Der aktuelle Stand ist, dass die Impfungen auch vor der Delta-Variante gut schützen. Und vor diesem Hintergrund sollten wir jetzt nicht drängen. Wir haben es in der Hand, wie sehr sich die gesellschaftlichen Gräben jetzt auftun und verschärfen. Darum bin ich stark dafür, dass wir auf einen respektvollen Umgang miteinander setzen.
Also ist in Ihren Augen auch eine Impfpflicht der falsche Weg?
Ja. Die Entscheidung zur Impfung ist in der Schweiz freiwillig. Dieses hohe Gut möchte ich ungern aufgeben.
Was ist mit einer Bestrafung oder Einschränkungen für Ungeimpfte?
Ich finde es nicht gut, Leute dazu zu bringen, sich entgegen ihrer Überzeugung zu impfen. Wichtig ist, dass sich alle schützen können, vor allem besonders gefährdete Personen. Der Rest liegt in der Eigenverantwortung des Einzelnen. Alle haben das Recht, Gesundheitsrisiken einzugehen.
Wirklich? Aber was ist, wenn jemand dieses Recht einfordert und damit auch für andere Personen ein Gesundheitsrisiko darstellt?
Jeder, der will, kann sich mit einer Covid-Impfung wirksam schützen. Warum sollten wir Leuten, die auf diesen Schutz verzichten, etwas vorwerfen? Wenn wir feststellen, dass sich Mutationen entwickeln, die auch für geimpfte Personen gefährlich sind, dann müssen wir nochmals darüber reden. Auch über ein allfälliges Impfobligatorium. Aber im Moment gibt es dafür wenig Anhaltspunkte.
Sollten nach den Sommerferien die Ansteckungszahlen wieder hochschnellen, müssen wir wieder über verschärfte Massnahmen diskutieren. Doch sind solche überhaupt noch durchsetzbar, wenn man eigentlich einen Impfstoff hat, mit dem man sich schützen könnte?
Ich hoffe nicht, dass es nötig sein wird, die Massnahmen wieder zu verschärfen. Wenn wir dafür sorgen, dass vulnerable Personen genug geschützt sind, wird es nicht zu einer erneuten Überlastung des Gesundheitssystems kommen. Ich bin überzeugt, dass sich viele Leute doch noch für eine Impfung entscheiden, weil sie erkennen, dass das doch besser ist, als sich anzustecken.
Und was, wenn Sie nicht Recht behalten und der Platz auf den Intensivstationen wieder knapp wird? Ist es dann fair, dass Ungeimpfte diese Plätze besetzen?
Diese Frage find' ich sehr unmoralisch. Man könnte auch fragen, ob man einen abgestürzten Gleitschirmflieger nicht einfach liegen lassen sollte, weil der ja selbst schuld war, dass er da herumgeflogen ist. Natürlich hat jeder von uns Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung.
In Frankreich oder Italien gilt ein Impfobligatorium für gewisse Berufsfelder wie in der Pflege oder Kinderbetreuung. Die Begründung ist, wer sich beruflich um andere Menschen kümmert, der darf keine Gesundheitsgefahr darstellen. Klingt plausibel, nicht?
Aus Studien wissen wir, dass die Bereitschaft des Schweizer Gesundheitspersonals sich impfen zu lassen nicht so schlecht ist. Der Anteil derjenigen, die das kategorisch nicht wollen, ist relativ gering. Diesen Diskurs zu eskalieren und von Oben herab etwas aufzudrücken, führt zu gesellschaftlichen Spannungen. Dann schauen wir einander schräg an, wenn einer die Maske nicht richtig anhat. Oder ärgern uns, wenn jemand nicht geimpft ist. Für das soziale Klima und den Zusammenhalt, den es in einer Krise braucht, ist das gefährlich. Wir sollten auch längerfristig denken: Je weniger restriktiv und autoritär wir durch diese Pandemie kommen, umso mehr können wir auf Eigeninitiative und Vernunft, auf Überzeugen und Aufklären setzen. Auf längere Sicht stärkt das eine Gesellschaft.
Die Pandemiebewältigung als Übungsfeld für ein friedliches, demokratisches, eigenverantwortliches Zusammenleben.
Sehen Sie, je mehr wir uns die Mühe machen, mit Impfskeptikern ins Gespräch zu kommen, desto mehr investieren wir auch längerfristig in die Zukunft und in unsere Fähigkeit eine Pandemie zu managen. Es kann ja auch sein, dass wir wieder in eine schwierige Situation geraten, in der wir die Leute weder bestrafen, noch in ein Verhalten zwängen wollen. Wir wollen, dass die Leute verstehen, kritisch prüfen. Natürlich darf es dabei einen kontroversen Diskurs geben. Und zuletzt wird sich das beste Argument, gefüttert von empirischer Evidenz, durchsetzen. Weil es offensichtlich der richtige Weg zu gehen ist.
Sie sind also optimistisch?
Ich habe nach wie vor die Hoffnung, dass man die Leute über einen rationalen Diskurs erreichen kann. Dass klar ist, dass ich mit der Impfung mehr gewinne, als dass ich riskiere. Spätestens wenn es auf den Herbst zugeht, nehme ich an, werden sich diejenigen, die noch nicht geimpft sind, sagen: Covid will ich eigentlich doch nicht kriegen. Vielleicht ist die Impfung doch keine so schlechte Idee.
Aber haben auch alle das Recht andere anzustecken? Habe wir das Recht andere mit HIV anzustecken? Mit Tuberkulose? Mit Lungenpest? Warum ist es bei Covid egal?
Warum darf ich mein Recht auf meine eigene Gesundheitsgefärdung so weit treiben, dass ich andere Personen gefärde?
Ausser dass es dann zu spät ist…
Ich habe kein Problem mit der Haltung, dass wir das Risiko von Mutationen bewusst in Kauf nehmen für a) weniger Massnahmen heute und b) weniger Druck auf Ungeimpfte. Aber es nervt mich, wenn die Diskussion aufgeschoben oder ignoriert wird…
Dass evtl. mehr für Aufklärung und Information getan wird, scheint wohl notwendig zu sein und einfach etwas auf einer Homepage aufzuschalten reicht das nicht. Das Interview hat bei mir aber einen faden Geschmack hinterlassen.