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Interview

Ex-Krisenmanager Paul Niggli im Interview zum drohenden Strommangel

Interview

Ex-Krisenmanager: «Es ist eine Tatsache, dass das Netz schon jetzt dauernd am Limit läuft»

Bei einer akuten Mangellage stellt der Bundesrat im äussersten Fall für einige Stunden den Strom ab. Der ehemalige Swissgrid-Krisenmanager Paul Niggli erklärt, welch hohe Risiken dieses Szenario birgt - und mit welchen Massnahmen es gar nicht so weit kommen würde.
24.08.2022, 17:5924.08.2022, 21:17
Kari Kälin / ch media
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Zur Begrüssung zeigt uns Paul Niggli (65) das Kraftwerk, das er in den letzten Jahren in sein Haus in Kriens (LU), gelegen am Sonnenberg, eingebaut hat. Zuerst installierte er eine Erdsondenwärmepumpe, die massiv weniger Strom benötigt als eine Luftwärmepumpe.

Sein Haus ist ein kleines Kraftwerk: Paul Niggli, ehemaliger Krisenmanager von Swissgrid.
Sein Haus ist ein kleines Kraftwerk: Paul Niggli, ehemaliger Krisenmanager von Swissgrid.Bild: Nadia Schärli

Auf dem Dach eine solarthermische Anlage, die bei vernachlässigbarem Stromverbrauch Wärme liefert. Die beiden Anlagen ersetzen die Elektroheizung und den Boiler. Die Fotovoltaikanlage produziert Strom, und dank eines Speichers kann Niggli den Eigenbedarf fast komplett abdecken.

Sogar im Fall eines Blackouts bleiben die Lichter eingeschaltet: Niggli hat eine Netztrennung installiert, damit er sein Haus autonom weiter mit Strom versorgen kann. Er hat viele seiner Nachbarn inspiriert, ihre Stromversorgung ähnlich sicherzustellen. Das kommt nicht von ungefähr. Der studierte Elektroingenieur Niggli ist ein Energieexperte.

Bis zu seiner Pensionierung Ende 2021 wirkte er bei Swissgrid als Krisenmanager. Swissgrid ist in der Schweiz zuständig für einen sicheren Netzbetrieb. Zudem fungierte er als Leiter Elektrizität beim Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung. Niggli hat mitgearbeitet an den Plänen zur Bewältigung einer Strommangellage.

Dieselgeneratoren, Powerstationen, Kerzen oder Brennholz sind mit Blick auf die befürchtete Strommangellage im Winter sehr gefragt. Sind solche Präventionsmassnahmen sinnvoll?
Paul Niggli: Sich vorbereiten und Reserven aufbauen ist auf jeden Fall eine gute Sache. Klar: Man könnte schon jetzt Strom sparen und entschwenden, um einer Strommangellage vorzubeugen. Aber ich verstehe, dass gewisse Leute aus Sicherheitsüberlegungen Dieselgeneratoren beschaffen wie zum Beispiel Landwirte, damit sie ihre Kühe weiter melken können.

Brauche ich als Privatperson für meine Mietwohnung oder mein Einfamilienhaus einen Generator?
Es kommt darauf an, welche Ziele man damit verfolgt. Auch aus Sicht des Umweltschutzes erachte ich es für vertretbar, wenn Privatpersonen im Notfall für wenige Stunden einen Dieselgenerator anwerfen. Generell denke ich aber: Privathaushalte benötigen keinen Generator.

Weshalb nicht?
Bei einer Strommangellange kommt es in der äussersten Eskalationsstufe zu Abschaltungen von vier Stunden. Das entspricht genau der Zeitspanne, die Gefrierfächer und Kühltruhen überbrücken können.

Sie selber haben aber Anlagen installiert, damit ihr Haus bei einer Abschaltung autark mit Strom versorgt wird.
So gesehen widerspricht meine vorherige Aussage meinem eigenen Handeln. Aber: Als Krisenmanager von Swissgrid habe ich viel Pikettdienst geleistet und im Homeoffice gearbeitet; ich wollte deshalb unbedingt eine unabhängige Stromversorgung haben. Es ging mir auch darum, mit Pilotprojekten zukunftsfähige Lösungen im Bereich der Energieversorgung auszuloten. Aber ich könnte gut damit leben, wenn bei mir die Lichter vier Stunden lang nicht funktionierten. Bei längeren, wochenlangen Ausfällen sähe es selbstverständlich anders aus.

Wie sollen sich Privatpersonen auf eine Strommangellage vorbereiten?
Abgesehen von Sparappellen oder Verboten sind Privatpersonen von der Strommangellage gar nicht betroffen - es sei denn, es tritt der äusserste Fall ein und der Strom wird gebietsweise für vier Stunden abgestellt. Ich halte das für unwahrscheinlich. Ich rate, schon jetzt sparsam zu sein. Wärme- und Kälteanwendungen brauchen viel Strom. Man kann duschen anstatt baden, die zweite Gefriertruhe abstellen und die Kühlschranktemperatur leicht erhöhen. Eine einfache Massnahme zur dauerhaften Entschwendung ist die LED-Beleuchtung; sie senkt den Stromverbrauch um den Faktor 10. Von einer bedeutenden Sparmöglichkeit liest und hört man fast nie etwas.

Nämlich?
Wir sollten Bitcoins verbieten. Ich bin schockiert, dass noch niemand auf diese Idee gekommen ist. Das Geschäft mit Bitcoins basiert auf Rechnern, die unfassbar viel Computerleistung benötigen und entsprechend Strom fressen. Eine einzige Bitcoin-Transaktion verbraucht so viel Strom wie ein Haushalt in eineinhalb Monaten. Der weltweite Bitcoin-Stromverbrauch entspricht etwa dem doppelten Verbrauch der Schweiz.

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Bitcoins sind veritable Stromfresser – man sollte die deshalb verbieten, fordert Niggli.Bild: keystone

Wie sollen sich Unternehmen rüsten?
Zunächst einmal sparen, bei Beleuchtung und Wärme, das können alle. Viel Potenzial liegt auch brach bei Firmen mit Fliessbändern, Maschinen und Pumpen. Dort könnten ältere Motoren ersetzt werden durch neue mit deutlich tieferem Verbrauch. Wichtig ist sodann eine gute Vorbereitung auf die Kontingentierung. Deshalb hat das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung die Industrie schon vor zwei Jahren in einem Brief aufgefordert, sich darüber Gedanken zu machen. Die Unternehmen können frei entscheiden, wie und wann sie die ihnen zugewiesene Strommenge verbrauchen. Sie können zum Beispiel den Schichtbetrieb von 7 auf 5 Tage reduzieren oder die Nachtschicht streichen. Denkbar sind auch Kooperationen. Der eine Bäcker arbeitet zum Beispiel von Montag bis Mittwoch, der andere von Donnerstag bis Samstag. Es spricht auch nichts dagegen, dass Firmen untereinander mit Kontingenten handeln.

Im äussersten Notfall wären Privathaushalte von vierstündigen Abschaltungen betroffen. Was würde das bedeuten?
Ich habe mich immer gegen Abschaltungen gewehrt. Man könnte darauf ganz verzichten, wenn man auch bei Haushalten mit Kontingenten arbeiten könnte. Das scheitert einzig und allein daran, dass noch nicht alle Haushalte mit Smartmetern ausgerüstet sind. Doch die Stromversorgungsverordnung schreibt vor, dass erst ab 2027 80 Prozent der Haushalte mit intelligenten Messsystemen ausgestattet sein müssen. Ein Smartmeter misst in jedem Haushalt alle 15 Minuten den Stromverbrauch und meldet das dem Elektrizitätswerk. Bei den Zählern, die es leider immer noch gibt, muss man den Verbrauch vor Ort ablesen.

Was kann ein Smartmeter?
Er kann auch schalten. Er kann Haushaltsgeräte, etwa Wärmepumpen, Waschmaschinen, Boiler, Heizungen, steuern, sie zu gewissen Zeiten automatisch ausschalten. Im Fall eines Netzengpasses kann man via Smartmeter zum Beispiel alle Heizungen in einem Versorgungsgebiet abschalten, um einen Blackout zu verhindern. Mit der herkömmlichen Rundsteuerung, die heute im Einsatz steht, ist diese flexible und rasche Lastensteuerung nicht möglich.

Wie gut ist die Schweiz grundsätzlich vorbereitet auf eine Strommangellage?
Der Stufenplan des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung ist gut. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Bundesrat die Massnahmen erst umsetzen kann, wenn die Lage akut ist und die Wirtschaft die Stromversorgung nicht mehr selber garantieren kann. Kritisch wird die Lage voraussichtlich zwischen Februar und Mai. Es kann sein, dass kaum noch Stromreserven vorhanden und die Stauseen fast leer sind, wenn der Bund das Steuer übernimmt. Doch vorher kann man niemandem vorschreiben, die Seen nicht zu brauchen. Anders als für Öl und Gas haben wir keine Pflichtlager.

Eine Unterlassungssünde?
In meinen Augen ja. Man müsste bei den Stromspeichern Pflichtlager vorschreiben. Das würde bedeuten, dass man zu gewissen Zeiten ein Stauziel hat à la: Ende Februar und Ende März darf der Pegelstand eine gewisse Höhe nicht unterschreiten. Die Pläne des Bundesrats, in den Stauseen etwas mehr Wasser zurückzubehalten, reichen nicht aus.

Was kann man kurzfristig tun, um die Strommangellage zu vermeiden?
Wir müssten auf jeden Fall die Reserven der Speicherseen zurückbehalten. Das wird schwierig, weil deren Betreiber nicht verantwortlich für die Stromversorgung sind. Sie verkaufen den Strom dann, wenn sie damit am meisten verdienen. Reserven aufbauen könnte man etwa, indem man die Stromverkäufe ins Ausland kontrolliert oder verbietet. Kurzfristig möglich wäre auch, Industriebetriebe mit hohem Stromverbrauch wie Stahl-, Zement- oder Papierfabriken gegen Entschädigung für temporäre Betriebsaussetzungen oder -reduktionen zu gewinnen. Diese Lösung ist auch langfristig denkbar. Zudem könnte man Haushalte mit Smartmetern kontingentieren. Haushalte mit den herkömmlichen Zählern müsste man von Hand ablesen oder man könnte gewisse Anwendungen wie Saunas oder Swimmingpools verbieten. Stromabschaltungen müssen wir auf jeden Preis verhindern. Das ist tödlich.

Erklären Sie!
Nehmen wir an, wir schalten in meinem Wohnort, der Stadt Kriens, gebietsweise für vier Stunden den Strom ab und sparen damit 30 Prozent Verbrauch. Wir haben in der Schweiz 10 Gigawatt Leistung. Schalten wir zu einem gewissen Zeitpunkt auf einmal etwa ein Drittel Leistung ab, dann entspricht das 3 Gigawatt. Diesen Lastensprung im Netz muss irgendjemand ausgleichen. Dafür müssen irgendwo 3 Gigawatt Regelleistung bereitstehen. Die Regelleistung ist nötig, um die Differenz zwischen Produktion und Verbrauch auszugleichen, denn bei einer Abschaltung ist für kurze Zeit zu viel Strom im Netz. Das wird mit der Regelleistung in wenigen Sekunden ausbalanciert. Ganz Europa steht für diesen Ausgleich 3 Gigawatt zur Verfügung. Und die Schweiz sollte andauernd solche Leistungsvolumen ein- und ausschalten? Das ist hochriskant. Das Netz würde relativ schnell zusammenbrechen.

Mit einem Blackout, einer unkontrollierten Stromabschaltung, als Folge?
Genau, diese Gefahr steigt enorm. Bei einem Blackout steht wirklich alles still. Tatsache ist auch, dass das Netz schon jetzt dauernd am Limit läuft. Wir haben andauernd Ereignisse in ganz Europa, bei denen Swissgrid und ihre Pendants in Europa mit Regelenergie eingreifen müssen, um ein Blackout zu vermeiden. In Bezug auf die Schweiz bin ich zuversichtlich, dass wir Stromabschaltungen dank Kontingentierungen vermeiden können.

Welche langfristigen Massnahmen drängen sich zur Lösung des Problems einer Strommangellage auf?
Wir müssen die Smartmeter schneller ausrollen, um die Kontingentierungen besser bewältigen zu können. Die Strompflichtlager müsste man im Landesversorgungsgesetz verankern. Wir müssten - etwa via Konzessionsverträge - die Inlandsversorgung priorisieren. Denn ein Problem ist die fehlende Versorgungspflicht. Diese Verantwortung gilt es auf irgendeine Art zu definieren. Natürlich müssen wir die Stromproduktion ausbauen und diversifizieren. Bei den erneuerbaren Energien besteht genug Potenzial. Und wir müssen die Speicherkapazitäten verbessern, nicht nur mit Staumauern.

Wie denn sonst?
Der rasche Vormarsch der Elektroautos eröffnet neue Perspektiven: Wir müssen die Batterien in den Versorgungskreislauf einbauen. Die Elektroautobatterien würden zum Beispiel in der Nacht Energie ins Stromnetz speisen. Man könnte sie tagsüber, wenn die Sonne scheint, wieder laden. Mit der Methode Power to Gas könnte man mit Solarstrom Gas produzieren. Mittels Elektrolyse wird Gas produziert, das nachher in Strom zurückverwandelt wird. Kleinere Anlagen dafür existieren bereits.

Kann die Energiewende gelingen?
Davon bin ich überzeugt. Wir haben alle technischen Hilfsmittel. Wir müssen sie nur richtig einsetzen und anwenden. Wir können genug erneuerbare Energie produzieren und neue Speichersysteme etablieren. Eine wichtige Voraussetzung ist die Einführung von variablen Strompreisen: Es soll dann billig sein, die Waschmaschine anzustellen, wenn viel Strom produziert wird, also am Mittag, wenn die Sonne scheint. Über solche Anreize können wir den Stromverbrauch und Rückspeisungen ins Netz sinnvoll steuern.

Zuletzt: Wie kann jeder Einzelne einen einfachen, aber effektiven Beitrag zum Stromsparen leisten?
Wir müssen uns zuerst bewusst werden, was wie viel Strom benötigt. Viele wissen zum Beispiel nicht, dass Bügeln sehr viel Energie braucht. Man muss die Haare auch nicht zwingend föhnen, sie trocknen an der Luft. Ich rate zudem, gleich vorzugehen wie beim Geld: Dass man jede Kilowattstunde zweimal umdreht, bevor man sie braucht. Das machen die Leute bis jetzt nicht, weil der Strom immer billig war. Ein Beispiel: Die Stereoanlage benötigt im Standby-Modus 25 Watt. Damit kann man fünf Zimmer beleuchten. (aargauerzeitung.ch)

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Bilder, die beweisen, dass hier keine Techniker am Werk waren
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Der Strom verschwindet aus der Luft
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161 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Maya Eldorado
24.08.2022 20:05registriert Januar 2014
Herr Niggli ist in einer komfortablen Lage. Er besitzt ein Eigenheim, hat Geld und versteht etwas von der Sache.
Ich wohne in einer ziemlich alten Wohnung und muss schauen, dass das Geld für das nötige reicht.
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grumit
24.08.2022 19:35registriert März 2019
Schade, kein Wort zur aktuellen Lage auf dem Strommarkt.
Der Grund für den aktuellen Strommangel und die extrem hohen Preise auf dem Spotmarkt (bis zu 1 CHF pro kWh) ist nicht mal der Krieg.
In Frankreich stehen die Hälfte der Kernreaktoren still. Die Schweiz und Deutschland exportieren aktuell enorme Mengen nach Frankreich.
Ob sich die Situation in Frankreich bis zum Winter entschärfen wird, darüber würde ich gerne mehr erfahren.
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Josefine
24.08.2022 19:01registriert Januar 2021
..."Es soll dann billig sein, die Waschmaschine anzustellen, wenn viel Strom produziert wird, also am Mittag"... und wieso ist dann der Nachttarif günstiger?
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