In der Weihnachtszeit vor zwei Jahren hatten die Asylzahlen in der Schweiz ihren Höchststand erreicht. Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an die Zeit zurückdenken?
Stefan Frey: Vor allem an die Katastrophenbilder: Flüchtlinge, die von Schleppern in führerlosen Geisterschiffen aufs Meer hinaus geschickt und dort ihrem Schicksal überlassen wurden. An den nicht abreissenden Strom von Menschen auf der Balkanroute. Das sind Bilder, die bleiben.
Der Bund dachte damals laut über den Einsatz eines Notfallkonzepts nach. Die Schweizerische Mediendatenbank verzeichnet allein für den Dezember 2015 fast 4000 Artikel, in denen das Wort «Flüchtlinge» vorkommt. Was hiess das für Sie als Sprecher der Schweizerischen Flüchtlingshilfe?
Zeitweise war ich bis zu sechs Stunden pro Tag mit Journalisten am Telefon. Ich arbeite seit den 80er-Jahren in der Kommunikation und habe mir deshalb eine gewisse Krisenfestigkeit zugelegt. Wenn es plötzlich um Hunderttausende Menschen geht, die am Rande des Abgrunds stehen, dann ist es schon eine emotionale Herausforderung, zu diesem Elend Stellung zu nehmen. Besonders, wenn die mediale Debatte aus Herrliberg zusätzlich angeheizt wird.
Sie empfanden die Berichterstattung zur Flüchtlingskrise als reisserisch?
Wir sind es uns in diesem Land leider gewohnt, dass gewisse Akteure auf die Pauke hauen und damit Resonanz finden in den Medien. Das hat man auch in diesem Fall probiert. Eine Zeitlang funktionierte das aber bemerkenswert schlecht. Die Grundstimmung, die auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu gewissen Aussagen bewegt hat, war auf der humanitären Seite.
Wann ist die Stimmung gekippt?
Ich würde nicht sagen, dass die Stimmung generell gekippt ist. Zahllose Menschen engagieren sich in der Schweiz freiwillig für Flüchtlinge. Nicht leugnen lässt sich aber, dass Teile von Politik und Bevölkerung zynisch geworden sind.
Wie meinen Sie das, «zynisch»?
Das beginnt ganz zuoberst: Von Macron bis Merkel ist es allen scheissegal, was mit den Flüchtlingen passiert. Man hat auf Biegen und Brechen einen Deal mit Libyen gemacht, damit man die schrecklichen Bilder von ertrinkenden Menschen nicht mehr sehen muss. Dabei wissen diese Politiker ganz genau, dass das Elend weiter geht – einfach in den libyschen Lagern. Dieses Kalkül ist für mich unentschuldbar.
Es ist ja nicht so, als ob Angela Merkel sich nicht für die Flüchtlinge stark gemacht hätte. Allerdings kam ihre Haltung «Wir schaffen das» in der Bevölkerung schlecht an. Merkels CDU wurde an der Urne abgestraft – und die rechtspopulistische AfD legte stark zu.
Mein Bedauern für Angela Merkel hält sich in engen Grenzen. Der Fehler ist weit vor ihrem «Wir schaffen das» passiert. Merkel war mitverantwortlich für die Schaffung des Dublin-Systems, das vorsieht, dass immer das Erstankunftsland für einen Asylsuchenden verantwortlich ist. Dass dieses Schönwettersystem in Krisenzeiten zu einer Überlastung führen muss, hat jeder gewusst.
Bereits seit geraumer Zeit wird über eine Reform des Systems diskutiert – allerdings ohne brauchbares Ergebnis. Was schlagen Sie vor?
Schutzbedürftige sollen frei entscheiden können, in welchem Land sie leben wollen. Es macht keinen Sinn, Leute in Ländern zu kasernieren, in denen sie keine Zukunft haben. Das führt zu Desintegration und Randständigkeit.
Ihr Modell ist doch utopisch. Wie soll das aufgehen?
Die Bedingungen müssten europaweit angeglichen werden, damit die Asylsuchenden nicht dahin gehen, wo sie die besten Sozialleistungen erwarten. Und natürlich müsste die Aufnahme an Bedingungen gekoppelt sein. Integration ist keine Einbahnstrasse, sie darf eingefordert werden.
Wie gut oder schlecht gelingt die Integration von Flüchtlingen in der Schweiz?
Es gibt noch Luft nach oben. Ein Mangel sind die riesigen Unterschiede zwischen den Kantonen. Heute ist es reiner Zufall, ob ein Asylsuchender einem Kanton zugeteilt wird, in dem er schnell Deutsch lernt und einen guten Zugang zum Arbeitsmarkt hat oder nicht. Hier bräuchte es dringend einheitlichere Standards. Ich hoffe, dass sich die Situation mit den beschleunigten Verfahren, die 2019 in Kraft treten, bessert.
Über fünf Jahre lang verfolgten Sie die Berichterstattung zu Flüchtlings-Themen täglich. Wenn Sie das Unwort der Asyl-Debatte wählen müssten – welches wäre es? Wirtschaftsflüchtling! Die Rechte kreierte den Begriff, weil es zu Beginn der Flüchtlingskrise politischer Selbstmord gewesen wäre, sich generell gegen Flüchtlinge zu stellen. So zeigte man Herz für syrische Bürgerkriegs-Flüchtlinge und konnte die Fremdenfeindlichkeit gleichzeitig bequem bei einer anderen Gruppe abladen. Inzwischen sind die Masken im rechten Lager teilweise gefallen: Eine generelle Diffamierung von Asylsuchenden wird wieder beliebter.
Gibt es für Sie aus humanitärer Sicht gar keinen Unterschied zwischen Menschen, die auf der Suche nach Arbeit sind und solchen, die vor Krieg oder persönlicher Verfolgung flüchten?
Nein. All diesen Menschen blühte in der Heimat eine Zukunft, die man in der Schweiz niemandem wünschen würde. Aber auch gar niemandem. Ob jemand aus politischen Gründen verfolgt wird oder in einem Kriegsgebiet lebte, spielt doch keine Rolle: Die Bombe, die den einen tötet, tötet den anderen auch. Und wenn jemand mit der Absicht nach Europa kommt, hier einen Job zu finden, dann macht er das auch nicht aus Spass, sondern weil er zu Hause keine Perspektive hat. Es geht gern vergessen, dass die Schweiz bis vor 150 Jahren auch jede Menge Wirtschaftsflüchtlinge produzierte.
Sie selber haben in Madagaskar ein Entwicklungsprojekt auf die Beine gestellt, dem Sie sich nun nach Ihrer Pensionierung verstärkt widmen wollen. Worum geht es?
Wir bringen Elektrizität in die Dörfer. Wir bauen ein Stromsystem auf, das auf Solar- und Windenergie basiert. Ich habe das Projekt zusammen mit sechs madagassischen Professoren entwickelt. Gleichzeitig bilden wir Leute vor Ort zu Basis-Elektrikern aus. Besonders stolz bin ich darauf, dass die Hälfte unserer Elektriker Frauen sind.