Der Kanton Zürich will verhindern, dass Aktivisten der umstrittenen «Lies!»-Gruppierung im öffentlichen Raum Korane verteilen. Das gab Sicherheitsdirektor Mario Fehr heute an einer Medienkonferenz bekannt, bei der ein entsprechendes Rechtsgutachten vorgestellt wurde. Ziel sei es, das Anwerben vor allem von jungen Leuten durch «Lies!»-Aktivisten präventiv zu unterbinden. Es sei die Pflicht der Behörden, alles für die Wahrung der Sicherheit im Kanton Zürich zu tun.
Der Gutachter, Rechtsanwalt Markus Rüssli, kommt in seinem Gutachten zum Schluss, dass sich Koranverteilungsaktionen von «Lies!» und ihr nahestehenden Gruppen im Rahmen des geltenden Rechts unterbinden lassen.
Laut Rüssli bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass sich die Koranverteiler von «Lies!» auf Grundrechte wie Religions- und Meinungsfreiheit beriefen, um Personen für «die Unterstützung oder die Propaganda verbotener Tätigkeit zu gewinnen».
Die Sicherheitsdirektion empfiehlt den Zürcher Gemeinden gestützt auf Rüsslis Guthaben, in Zukunft Gesuche für Standaktionen der «Lies!»-Kampagne abzulehnen. Weil es sich bei Standaktionen juristisch gesehen um «gesteigerten Gemeingebrauch» des öffentlichen Raums handelt, sind sie bewilligungspflichtig.
Sollten «Lies!»-Aktivisten Standaktionen ohne Bewilligung durchführen sollten, empfiehlt der Kanton, die Aktivisten durch die Polizei wegzuweisen. Diese Handlungsempfehlungen verschickt die Sicherheitsdirektion in einem Schreiben an alle Gemeinden.
Die Gemeinden sollen auch Gesuche für Standaktionen von Gruppen ablehnen, die «Lies!» nahestehen. Solche Gruppen können laut Gutachter Markus Rüssli daran erkannt werden, wenn sie die selben Koranausgaben oder dieselben Flugblätter verwenden.
Auch wenn «Lies!»-Aktivisten sich einzeln und frei im öffentlichen Raum bewegen und Korane verteilen, ohne einen Stand zu betreiben, haben die Behörden laut Rüsslis Gutachten ebenfalls Möglichkeiten. Bei solchen Verteilaktionen handelt es sich im Gegensatz zu Standaktionen lediglich um «schlichten Gemeingebrauch» des öffentlichen Raums. Die Polizei kann Einzelpersonen wegweisen, wenn von ihnen eine sicherheitspolitische Bedrohung ausgeht.
Der Kanton Zürich hätte theoretisch auch die Möglichkeit, eine Organisation oder deren Tätigkeit zu verbieten. Rüssli räumt ein, dass die «Lies!»-Aktivisten zwar über die Grenzen des Kantons hinaus aktiv sind. Da sie aber auf lokaler Ebene Aktionen durchführten und allenfalls sogar die Anwerbung von Jihadisten versuche, gebe es durchaus Argumente für ein Verbot auf Kantonsebene. Dafür müsste Zürich aber erst eine gesetzliche Grundlage schaffen.
Gegenüber Radio SRF sagte Mario Fehr bereits im November 2016, dass er für die Verteilaktionen der «Lies!»-Aktivisten keine Sympathien hege. Mit der Beuaftragung eines externen Gutachters wolle der Kanton nach Mitteln und Wegen suchen, um den Aktivisten Steine in den Weg zu legen – auch ein Verbot sei denkbar. Skeptischer zeigte sich der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) in seinem jüngsten Sicherheitsbericht.
Der NDB weist ausdrücklich darauf hin, dass ein Verbot von «Lies!» hierzulande nicht praktikabel wäre, im Gegensatz zu Deutschland, wo die Organisation im November 2016 verboten wurde. In der Schweiz existierten keine analoge Rechtsform der Koranverteiler. Ein Tätigkeitsverbot falle somit ausser Betracht. Darüber hinaus fehlten gesicherte Erkenntnisse, dass die Standaktionen «gewalttätig-extremistische oder terroristische Tätigkeiten fördern und damit die innere Sicherheit gefährde». Zudem wäre die zu verbietende Tätigkeit die Verteilung des Korans, was zu einem starken Konflikt mit der Ausübung der Religionsfreiheit führen würde.
Sicherheitsdirektor Mario Fehr zeigt sich auf eine Frage von watson hin unzufrieden mit der Analyse des NDB zu den «Lies!»-Aktivisten. Die Tatsache, dass die Bundesanwaltschaft Strafverfahren gegen mehrere «Lies!»-Exponenten geführt werde, zeige den Handlungsbedarf. Auch wenn «Lies!» keine Organisation im juristischen Sinne sei, sei eine eindeutige Netzwerkstruktur vorhanden. Fehr ist der überzeugt, dass der NDB seine Einschätzung bald neu beurteilen werde.
Die Koranverteilungsaktionen von «Lies!» beschäftigen die Behörden schon länger. Im Sommer 2016 kündigte die Stadt Winterthur an, ein Verbot zu prüfen. Grund dafür: Die Verhaftung des 30-jährigen Konvertiten S., der auch als «Emir von Winterthur» bekannt ist durch die Bundesanwaltschaft im Juni 2016. Die Bundesanwaltschaft führt momentan mehrere Strafverfahren gegen Personen mit einer Verbindung zu «Lies!».
S. gilt als zentrale Figur der Winterhurer Salafistenszene. Er soll den Schweizer Ableger von «Lies!» aufgebaut haben. Der Emir von Winterthur soll im Umfeld der umstrittenen An'Nur-Moschee verkehrt sein und gemäss der Rundschau von SRF als «Respektsperson für die Jugendlichen im Radikalisierungprozess» gewirkt haben. Aus Winterthur waren bis zur Verhaftung von S. mindestens fünf Jugendliche nach Syrien oder Irak gezogen.
Gemäss Recherchen des «Tages-Anzeigers» seien bisher elf Koranverteiler aus der Schweiz, darunter eine Frau, nach Syrien oder in den Irak gereist, oder hatten die Absicht, sich einer dortigen Terrorgruppierung anzuschliessen. Gemäss Tages-Anzeiger sollen somit elf Prozent der rund 100 aktiven Koranverteiler ein persönliches Jihad-Projekt verfolgt haben.