Das Restaurant Kleinholz in Olten ist ein heruntergekommener Ort, geprägt von den Spuren der Vergangenheit. Man sieht der Beiz an, dass sie mehrmals in Konkurs ging.
Inmitten dieser Tristesse baumelt eine rote Girlande im Nieselregen. Der neue Pächter William W. spannte sie vor drei Wochen über den Vorhof. Damals feierte er die Neueröffnung mit südamerikanischer Küche und Musik. Mit dem neuen Namen des Lokals kündigte er Grosses an: Palacio de la Paz, Friedenspalast.
Um selber den Frieden zu finden und sich von den Spuren seiner Vergangenheit zu lösen, verpasste er auch sich selbst eine neue Identität. Der gebürtige Kolumbianer stellte sich seinen Gästen mit einem anderen Namen vor.
So erinnerte nichts mehr an den schweizweit bekannten William W., den sechsfachen Kinderschänder. Am 11. November lud er ein Foto auf sein neues Facebook-Profil. Er steht vor der geöffneten Türe und bittet den Betrachter mit einer Handbewegung in sein leeres Lokal. So habe er oft nach Kundschaft geworben, erzählen Anwohner.
Auch ein achtjähriger Bub fand dem Vernehmen nach den Weg in den Friedenspalast. Dort soll ihm der Wirt in die Hose gegriffen und ihn am Geschlechtsteil berührt haben. Als die Solothurner Staatsanwaltschaft vom Verdacht erfuhr, handelte sie sofort: Sie liess W. im Wirtshaus festnehmen und eröffnete ein Verfahren wegen sexuellen Handlungen mit einem Kind.
Nach der Polizeiaktion ging ein Aufschrei durch das Land. Weshalb konnte ein zweifach vorbestrafter Sexualstraftäter, der als gefährlich eingestuft wurde, eine Beiz neben einem Spielplatz führen? Und erst noch eine, die auf Google als «kinderfreundlich» angepriesen wird. Gleich um die Ecke befindet sich zudem der Kindergarten des Quartiers.
Hinzu kommt: W. hatte ein Alkoholproblem zu verarbeiten, trotzdem stand er hinter dem Tresen. In diesem Umfeld hätte der Pädophile auf neue Gedanken kommen sollen.
Das Leben des 45-Jährigen ist ein Desaster. Mit 26 Jahren wurde er vom Bezirksgericht Aarau verurteilt, weil er sich an fünf Kindern vergangen hatte. Mit 33 Jahren schlug er erneut zu: Er lockte ein achtjähriges Mädchen von einem Trampolin in Starrkirch SO weg und vergewaltigte es. Danach sass er zehn Jahre im Gefängnis sowie in 239 Therapiesitzungen.
Gemäss seinem Gutachter Elmar Habermeyer kam er dabei «keinen Zentimeter» weiter. Das Problem: W. konnte nicht einsehen, dass er pädophil ist. Er weigerte sich, an einer Gruppentherapie mit anderen pädosexuellen Tätern teilzunehmen. Dem Psychiater erklärte er: «Solche Menschen verabscheue ich zutiefst.»
Die Therapie war sinnlos, trotzdem wollten die Behörden die stationäre Massnahme immer wieder verlängern. Eigentlich war er nur zu fünf Jahren verurteilt worden. Da sein Rückfallrisiko als «mittelgradig bis hoch» eingestuft wurde, suchten die Behörden nach einem Grund, ihn im Gefängnis zu behalten. Doch das Solothurner Obergericht stellte fest, dass eine Rechtsgrundlage für die lange Haftdauer fehlte. So kam W. frei, als er 43 Jahre alt war.
Als die Richter den Serientäter freiliessen, hatten sie ein schlechtes Gewissen. So lässt sich erklären, dass die Behörden ein spezielles Setting konstruierten. Es bestand aus vier Elementen.
Die erste Massnahme war eine Drohung. Die Staatsanwaltschaft beantragte eine nachträgliche Verwahrung, sistierte dieses Verfahren aber. Es war ein Rennen gegen die Zeit. Damit der Antrag vor Gericht eine Chance hatte, musste eine neue Begründung her, zum Beispiel mit einem weiteren Gutachten. Je länger aber William W. draussen blieb, umso grösser wurde die Wahrscheinlichkeit, dass er rückfällig werden könnte.
Die zweite Massnahme war eine ambulante Therapie. Obwohl die 239 bisherigen Sitzungen nichts brachten, musste W. seit seiner Freilassung rund 100 weitere absolvieren. Einmal pro Woche besuchte er einen Psychiater. Erst kurz bevor W. wieder verhaftet wurde, hatte ein Gutachter dann das Erwartbare festgestellt. Die Therapie sei aussichtslos. Das Amt für Justizvollzug beabsichtigte deshalb, die ambulante Massnahme abzubrechen und die nachträgliche Verwahrung durchzusetzen. Das ist ein langwieriges Verfahren, bei dem sich W. bis zum rechtskräftigen Entscheid unbeaufsichtigt in Freiheit bewegen kann. Die Behörden verlieren den Kontakt zu ihm, wenn er diesen nicht mehr wünscht. Deshalb zögerten sie den Schritt hinaus.
Die dritte Massnahme war Bewährungshilfe. Einmal pro Woche traf W. einen Sozialarbeiter. Doch falls er zum Beispiel nicht über sein Sexualleben sprechen wollte, hätte er nicht dazu gezwungen werden können. Der Bewährungshelfer kann helfen, mehr nicht.
Die vierte Massnahme war eine GPS-Fussfessel, die W. rund um die Uhr tragen musste. Electronic Monitoring läuft aber nicht so ab, wie man sich das vielleicht vorstellt. Es gibt in der Solothurner Verwaltung keine Bildschirme, auf denen man die Bewegungen der überwachten Täter mitverfolgen könnte. Der Kanton besitzt nicht die Infrastruktur für eine Liveüberwachung. Die Fussfessel hat vor allem einen psychologischen Effekt: Der Täter weiss, dass seine Aufenthaltsorte dokumentiert werden, mehr nicht.
Der Mann, der dafür verantwortlich ist, dass sich W. in Freiheit bewährt, ist Michael Leutwyler, Leiter des Amts für Justizvollzug. Er koordiniert die Massnahmen im barocken Ambassadorenhof in Solothurn.
Eine Frage zeichnete diese Woche Augenringe in sein Gesicht. Formuliert wurde sie von einer aufgebrachten Öffentlichkeit. Sie lautet: Was hat er falsch gemacht?
Leutwyler schüttelt den Kopf und sagt: «Eine Anbindung in einem ambulanten Setting verspricht eine Verhaltensänderung und ist deshalb besser als nichts. Damit lässt sich aber keine absolute Rückfallprävention erreichen.»
Die Wege in Solothurn sind kurz. Ein paar Schritte vom prestigeträchtigen Verwaltungssitz entfernt befindet sich die Kanzlei von Konrad Jeker. Er ist der amtliche Verteidiger von W. und setzt sich damit einem Shitstorm aus.
Wegen seines berühmt-berüchtigten Klienten wird er beschimpft und bedroht. Dennoch kämpft er für die Rechte eines Wiederholungstäters, dem viele Leute keine Rechte zugestehen würden. Jeker war es, der die Freilassung und eine Entschädigung für die Überhaft erstritten hatte. Danach kämpfte er erfolglos dafür, dass das Setting gelockert wird.
Der Tenor in der gesellschaftlichen Debatte ist einhellig: W. wurde rückblickend zu wenig überwacht. Doch auch nach der erneuten Inhaftierung vertritt Jeker einen anderen Standpunkt: «Das Setting war nicht etwa zu weit, sondern viel zu eng.» Die Überwachung mit der GPS-Fussfessel sei unnötig gewesen, das bringe überhaupt nichts. Im Gegenteil: «Die Massnahme kann kontraproduktiv sein, wenn sie vom Betroffenen als Schikane empfunden wird.»
Die Empörung hält er für nicht gerechtfertigt: «Es laufen Tausende von verurteilten und potenziellen Sexualstraftätern frei in der Schweiz herum.» Es sei eine Illusion, zu glauben, man könne diese alle überwachen oder einsperren. Er sagt: «So schlimm es auch ist, wir müssen akzeptieren, dass es ein Risiko gibt, das wir nicht kontrollieren können.»
Das Bundesamt für Justiz kommt zu einem anderen Schluss. Kurz bevor die Polizei im Restaurant in Olten einfuhr, erkannte die Bundesbehörde im Fall W. eine Lücke des Justizsystems. Zufälligerweise veröffentlichte das Bundesamt in der gleichen Woche, in dem die Eskalation im Fall W. publik wurde, eine Analyse des Problems. Da im Bericht nicht explizit erwähnt wird, dass dieser massgeschneidert für den aktuellen Fall formuliert wurde, kam das Papier in der Debatte um William W. bisher nicht vor.
Das Bundesamt schlägt für gefährliche Straftäter mit erhöhtem Rückfallrisiko eine neue Massnahme nach deutschem Vorbild vor, die das Schweizer Justizsystem künftig prägen könnte: eine Aufsichtsmassnahme. Mit dieser sollen die Justizbehörden nach einer Entlassung aus dem Gefängnis strengere Überwachungen und Kontrollen als heute anordnen können. Werden diese verletzt, könnten die Täter sofort wieder ins Gefängnis oder in die Psychiatrie eingewiesen werden.
Eine Kopie des Berichts liegt auf dem Pult von Justizvollzugschef Leutwyler. Er sagt: «Das Bundesamt für Justiz hat die rechtlichen Herausforderungen erfasst.»
Strafverteidiger Jeker hingegen sieht schwarz, falls der Bundesrat den Vorschlag unterstützten sollte. Er sagt: «Damit schafft man nur eine neue Illusion. Man tut so, als stelle man eine Sicherheit her, die es gar nicht gibt.» Das sei Aktionismus. Er warnt: «Wir können unser Land schon so weit bringen, dass niemand mehr in der Lage ist, etwas Verbotenes zu tun. Dann wird die Schweiz aber zu einem Gefängnis wie bei Dürrenmatt.»
Nach dürrenmattscher Logik befand sich W. schon in einem Gefängnis, als er in seinem leeren Restaurant auf Kundschaft wartete und versteckt unter seinen Hosen eine Fussfessel tragen musste.
Der Fall stellt die Schweiz vor eine grosse Frage: Braucht sie mehr Freiheit oder mehr Sicherheit?
(aargauerzeitung.ch)