Sie sind jung, trainiert und unglaublich selbstbewusst. So könnte man im Groben die acht jungen Männer beschreiben, die am Montag vor das Winterthurer Bezirksgericht zitiert wurden. Als der eine von ihnen, zwanzigjährig, breitbeinig und unmotiviert im Stuhl hängend dem Gerichtspräsident sagt: «Sie, das ist eine Verschwörung. Ich finde es übertrieben. Das meiste ist gelogen», schnauben einige Medienschaffenden ab der schnoddrigen Art des jungen Mannes ungläubig auf. Sie sitzen ein Stockwerk höher in zwei Räumen und verfolgen den Prozess per Videoübertragung auf einem Bildschirm.
Im Gerichtssaal unter ihnen, wo die jungen Männer auf der Anklagebank sitzen, könnte man denken, dass es einige etwas gar auf die leichte Schulter nehmen. Als ob der Termin vor Gericht nur eine lästige Pflichtaufgabe wäre, die absolviert werden muss und dann wieder vergessen werden kann.
Doch auf dem Spiel steht viel: Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland fordert für die Angeklagten teilbedingte Freiheitsstrafen zwischen 30 und 36 Monaten. Zudem sollen die Beschuldigten mit ausländischer Staatsangehörigkeit des Landes verwiesen werden.
Konkret wird den acht jungen Männern, dem Imam der An'Nur-Moschee und dessen Vereinspräsidenten vorgeworfen, während mehreren Stunden zwei Männer im Gebetshaus festgehalten zu haben, diese angespuckt, beschimpft und geschlagen zu haben, sie mit dem Tod bedroht und dem einen Mann eine Zehnernote in den Mund gestopft zu haben. Dies, weil die Angeklagten dachten, es würde sich bei den zwei Männern um «Spione» handeln, die für Geld Informationen aus der Moschee dem Journalisten Kurt Pelda zukommen lassen.
Pelda selbst sitzt ebenfalls im Raum mit den Medienschaffenden und folgt konzentriert dem Geschehen auf dem Bildschirm. Ab und an schüttelt er den Kopf und flüstert etwas zu seinen Sitznachbarn. Es war sein Artikel, der im November 2016 zu einer Razzia in der An'Nur-Moschee führte. Er schrieb, ein äthiopischer Imam habe im Gebetshaus in einer Freitagspredigt zum Mord an ungläubigen Muslimen aufgerufen und gefordert, diese zu denunzieren. Der Äthiopier wurde daraufhin verhaftet, verurteilt und des Landes verwiesen.
Seither suchte das Umfeld der Moschee im Winterthurer Hegi-Quartier nach den Verrätern, die den Inhalt der Predigt an den Journalisten weitergereicht hatten. Drei Wochen nach der Razzia glaubte man, diese in zwei aus Nordafrika stammenden Männern gefunden zu haben. Was dann, an jenem 22. November von 19.30 Uhr bis 21.15 Uhr geschah, will niemand so richtig wissen. Klar ist für die Beschuldigten nur eines: Gewalt wurde den zwei Männern nicht angetan. Da sind sie sich alle sicher.
Oder doch nicht so ganz? Zumindest der eine, nennen wir ihn A, sagt aus, er habe einem der zwei mutmasslichen Opfer, nennen wir ihn Bilal, ins Gesicht gespuckt. Dies, weil er herausfand, dass sich auf Bilals Handy Fotos von As Bruder befanden.
Der Bruder, nennen wir ihn B, hat das Spucken gesehen, ist sofort hingelaufen und hat A gesagt, er soll nicht spucken, das gehört sich in der Moschee nicht. Dass Bilal Fotos von B auf dem Telefon hatte, hat ihn zwar wütend gemacht, er ist aber ruhig geblieben. Dass er Bilals Kollege danach mit der Faust auf den Kopf geschlagen hat, stimmt nicht. Er glaubt, der Kollege ist auf die Toilette gegangen und hat sich selber geschlagen.
Und das Telefon? Wie kam das in die Hände der Beschuldigten? Laut Anklageschrift wurde Bilal derart eingeschüchtert, dass er sein Handy seinen Peinigern schliesslich aushändigte. Nachdem ihm ins Gesicht geschlagen wurde, habe er auch den Code herausgegeben. Falsch, sagt C. Er hat Bilal nicht geschlagen, sondern ihn ganz freundlich zur Seite genommen, um ihn zur Rede zu stellen. Er wollte wissen, ob er der Spitzel ist. Daraufhin wollte ihm Bilal alles gestehen, freiwillig, weil er froh war, endlich sein Gewissen zu erleichtern.
Geld! Ja, Geld ist der Grund, warum Bilal spioniert hat, ist sich D sicher. Für seine Informationen an Kurt Pelda ist Bilal bezahlt worden. Hysterisch war die Stimmung in der Moschee, sagt E. Es wurde diskutiert, er hörte Rufe. Darum rief er seinen Vater, den Imam, an. Dieser ist 10 Minuten später dort gewesen.
Von alldem bekam F nichts mit. Er sass mit Bauchkrämpfen auf dem WC. Erst als er aus der Toilette kam, erfuhr er, dass auf Bilals Telefon Fotos von B gefunden wurden. Er ging dann zu Bilal hin und sagte: «Ich bin enttäuscht von dir.» Dass er, wie die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift schreibt, Bilal dann eine Zehnernote in den Mund gestopft hat, von ihm verlangt hat, diese zu schlucken, ihm sagte: «Du hast deine Religion für Geld verkauft», stimmt nicht, sagt er. Er ist doch kein Psychopath.
Anders als ihre Mitangeklagten mögen G und H gar nichts mehr sagen. Sie verweisen bei jeder Frage des Gerichtspräsidenten auf ihre Aussagen in der Einvernahme und schweigen ansonsten. Der Imam hingegen spricht wie ein Buch. An jenem Abend war er Vermittler, so wie es Aufgabe eines Imams ist, hörte er Bilal zu und bot Hilfe an. Denn dieser hatte grosse Angst, weil er merkte, dass sein Verrat ein Fehler war.
Im Büro des Imams sprach man schliesslich gemeinsam mit dem Vereinspräsidenten ganz freundschaftlich miteinander. «Dass ich die Bürotür abgeschlossen habe, ist ganz normal. Das tue ich immer, um meinen Gesprächspartnern Privatsphäre zu ermöglichen.» Es stimmt nicht, dass er Bilal zu einem Geständnis gezwungen hat, das aufgenommen wurde. Anders war es. Man hatte die Idee, Kurt Pelda wegen Spionage anzuzeigen. Als Beweismittel machte Bilal dann die Tonaufnahme.
Alles in allem zeichnen die Beschuldigten ein völlig anderes Bild als die Staatsanwaltschaft von jenem Abend im November. Sie wittern eine Verschwörung von der Staatsanwaltschaft, der Polizei und den Medien. Sie sollen als Salafisten, als böse Terroristen abgestempelt werden. Doch eigentlich seien sie alles normale Jugendliche, die zusammen Fussball spielen und sich ab und zu in der Moschee treffen.
So sieht es auf jeden Fall A. Warum auf seinem Smartphone Fotos von brennenden Menschen, von Verletzten, von zerstümmelten Leichenteilen zu finden sind, warum er auf WhatsApp ein Video erhielt, auf dem ein Tiger einen Menschen zerfetzt, ist laut ihm eben genau deswegen, weil das ganz normal ist für einen Jugendlichen. «Gehen Sie mal raus und fragen sie zwanzig Junge, was die alles auf ihren Handys haben. Ich bin in so vielen WhatsApp-Gruppen, ich weiss doch nicht, was ich da alles an Bildern und Videos geschickt bekomme.»
Es ist ein aussergewöhnlicher Prozess mit aussergewöhnlichen Akteuren. In den folgenden Tagen werden die Anwälte und die Staatsanwältinnen ihre Plädoyers halten. Danach ist es am Gericht, ein Urteil zu fällen. Klar ist: Es wird eines sein, das nicht nur über die zehn Beschuldigten entscheidet, sondern auch an der An'Nur-Moschee und ihren Anhängern ein Exempel statuieren soll.