Die SVP hat sie sich herbeigesehnt. Dann war die «Strichli-Liste» da: Ende November veröffentlichte das Staatssekretariat für Migration (SEM) Zahlen zur Ausschaffung ausländischer Straftäter. Im letzten Jahr ordneten Schweizer Gerichte demnach 2250 Landesverweise an. Sie betreffen meistens Männer zwischen 18 und 54 Jahren, am häufigsten handelt es sich um Albaner und Algerier.
Knapp 70 Prozent der Verurteilten haben die Schweiz letztes Jahr auch tatsächlich verlassen. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi schliesst daraus, die Härtefallklausel werde zu oft angewendet. Der Zuger Nationalrat kritisierte, dass das SEM dazu keine Zahlen präsentierte.
Bei sogenannten Katalogtaten können Gerichte von einer automatischen Ausschaffung absehen, wenn ein persönlicher Härtefall schwerer wiegt als das Interesse der Öffentlichkeit, einen Ausländer wegzuweisen.
Das Bundesgericht hat in den letzten Wochen zwei Entscheide gefällt, welche in der «Strichli-Liste» unter der Rubrik «nicht vollzogen» landen. Beide Male geht es um das Recht auf Achtung des Familienlebens, geschützt von der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Das Urteil vom 15. November betrifft einen in der Schweiz geborenen, heute 34-jährigen Türken. Er hatte eine schwierige Kindheit, verkrachte sich mit den Eltern, flog als Teenager von der Schule, floh aus dem Jugendheim und brach eine Kochlehre ab. Er bezog Sozialhilfe und jobbte bloss temporär auf dem Bau, in der Küche oder bei der Kanalreinigung. Im regulären Erwerbsleben etablierte er sich nie. Dafür verkaufte er 320 Gramm Heroingemisch. Das Kantonsgericht St. Gallen ahndete dies 2019 mit drei Jahren Haft und einem fünfjährigen Landesverweis.
Im November 2022 kam er aus dem Gefängnis und begab sich schnurstracks zur Notfallaufnahme des Kantonsspitals St. Gallen, wo er sich ein neues Herz einpflanzen lassen wollte. Doch stattdessen verbrachte er die nächsten acht Monate in der Psychiatrie; der Mann leidet an einer paranoiden Schizophrenie mit chronifiziertem Wahnsystem.
Nach dem Klinikaufenthalt zog er zu seiner Mutter. Sie kümmert sich seither um ihn, ohne fremde Hilfe könnte er den Alltag nicht bewältigen. Die psychiatrische Spitex unterstützt ihn ebenfalls. Die St. Galler Migrationsbehörden wollten ihn nun ausschaffen. Auch das SEM gab grünes Licht, eine adäquate medizinische Weiterbehandlung in der Türkei sei gewährleistet.
Doch jetzt sistiert das Bundesgericht die Ausschaffung. Der Grund: Solange der Mann auf umfassende Fürsorge seiner Mutter angewiesen ist, fällt dieses Abhängigkeitsverhältnis unter das Recht auf Achtung des Familienlebens. Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. Wenn sich der Mann gesundheitlich stabilisieren sollte, wäre eine Ausschaffung für das Bundesgericht verhältnismässig. In einem früheren Urteil hatte es nämlich entschieden, ein Landesverweis sei trotz persönlichem Härtefall verhältnismässig.
Die Härtefallklausel gezückt haben die Richter in Lausanne hingegen Ende Oktober bei einem Kosovaren. Er stach auf einer Baustelle mit einem Messer auf einen Landsmann ein und wurde deswegen 2023 vom Obergericht Solothurn zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen versuchter vorsätzlicher Tötung verurteilt, inklusive zehn Jahren Landesverweis.
Der Sohn des Täters ist schwerstbehindert und braucht intensive Betreuung, sein Vater besucht ihn regelmässig im Heim. Im Kosovo könnte der Sohn seinen Vater laut dem Bundesgericht nicht oder «nur unter extrem erschwerten Bedingungen» besuchen. Deshalb greife das Recht auf Achtung des Familienlebens. Das Obergericht muss den Fall jetzt neu beurteilen und entscheiden, ob es den Härtefall stärker gewichtet als die öffentliche Sicherheit. Es muss insbesondere prüfen, ob vom Vater Rückfallgefahr ausgeht oder nicht.
Schafft die Härtefallklausel ab.