
Fremdplatzierte Kinder im Brennpunkt: Geht die KESB wirklich härter vor als die Vormundschaftsbehörde?bild: shutterstock
Die umstrittenste Behörde der Schweiz ist bei
Fremdplatzierungen von Kindern zurückhaltender als das
alte Vormundschaftssystem. Das zeigen exklusive Zahlen.
04.09.2016, 07:0304.09.2016, 08:16
sarah serafini, chrhristoph bernet / schweiz am Sonntag
Ein Artikel von Schweiz am Sonntag

Seit ihrer Einführung vor dreieinhalb
Jahren steht sie unter Dauerbeschuss.
Kaum eine andere Behörde
in der Schweiz wird so stark kritisiert
wie die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde
(KESB). Ihr Tätigkeitsgebiet
– der Eingriff des Staates
in die intimsten Bereiche des Familienlebens
– führt zu emotionalen Debatten.
Ob die KESB tatsächlich besser
ist als ihre Vorgängerin, die Vormundschaftsbehörde,
wird von den
Kritikern angezweifelt.
Erstmals zeigen nun Zahlen, wie
sich die KESB seit ihrer Einführung
am 1. Januar 2013 entwickelt hat. Sie
stammen aus der aktuellen Statistik
der Kokes, der Dachorganisation
der KESB, und liegen der «Schweiz
am Sonntag» vor. Für die Erhebung
wurden Daten von allen 146 KESB in
der Schweiz zusammengetragen.
Nachdem die Zahlen in den Vorjahren
noch unvollständig und gesamtschweizerisch
nicht vergleichbar
waren, ist es nun möglich, erste
Trends aufzuzeigen.
Anders als von den KESB-Gegnern
befürchtet, ergreift die neue Behörde
leicht weniger oft sogenannte
«Schutzmassnahmen» als die Vormundschaftsbehörde.
Bei den Kindern
haben die Schutzmassnahmen
von 1996 bis 2012 jährlich um vier
Prozent zugenommen. Seit der Einführung
der KESB ist erstmals ein
Rückgang um 1,3 Prozent zu verzeichnen.
Per Ende letztes Jahr gab
es in der Schweiz 40'600 Kinder mit
einer Schutzmassnahme. Bei Erwachsenen
wie auch bei Kindern
betrifft der grösste Teil der KESB-Massnahmen
die Anordnung eines
Beistands. Bei beiden Gruppen
macht dies rund 70 Prozent aller
Fälle aus.
Seit 2013 in Kraft
Am 1. Januar 2013 löste die Kindes-
und Erwachsenenschutzbehörde
(KESB) ihre Vorgängerin,
die Vormundschaftsbehörde, ab.
Das entsprechende Gesetz wurde
vom damaligen Justizminister
Christoph Blocher (SVP) ins Parlament
eingebracht. Die 1415 kommunalen
Vormundschaftsbehörden
wurden durch 146 KESB ersetzt.
Während vorher Gemeinderäte
über die Dossiers aus dem
Kinder- und Erwachsenenschutz
berieten, sollte das System professionalisiert
werden. Neu bestand
die Behörde aus einem Team von
Juristen, Psychologen und Sozialarbeitern.
Ebenfalls ein wesentlicher
Punkt bei der Revision war,
dass Beschwerden an ein unabhängiges
Gericht gelangten und
nicht mehr wie früher auf dem
Pult des Gemeinderates landeten.
Zu Beginn war die Neuerung weitgehend
unbestritten. Später lösten
umstrittene Einzelfälle landesweite
Empörung aus.
Weniger Fremdplatzierungen
Was aufgrund der vergangenen Ereignisse
besonders interessiert, ist,
wie oft die KESB ein Kind fremdplatziert.
Der Statistik ist zu entnehmen,
dass per Ende des letzten Jahres
3449 Kinder fremdplatziert waren,
also in einem Heim, bei einer Pflegefamilie
oder bei einem Verwandten
lebten. Das ist eine hohe Zahl. Jedoch
ist sie tiefer als in der Zeit, als
noch die Vormundschaftsbehörde
über das Kinderwohl entschied. Ende
2012 waren 3853 Kinder fremdplatziert.
Diese Zahl ist seit 2007
leicht gewachsen. Unter der Führung
der KESB verzeichnet sie einen
Rückgang (siehe Grafik). Für 2012
und 2013 liegen keine Zahlen vor.

grafik: schweiz am sonntag
Im Kanton Basel-Stadt zeigt sich
deutlich, dass heute weniger Kinder
ihren Eltern entzogen werden als
früher. 2012 wurden 45 Kinder
fremdplatziert, 2013 waren es 30,
2014 noch 25 und letztes Jahr 24.
Christoph Häfeli, Kinderschutzexperte,
Jurist und KESB-Berater, sagt:
«Die Zahlen zeigen, dass das Zerrbild
von SVP-Nationalrat Pirmin
Schwander und seinesgleichen
nichts mit der Realität zu tun hat.»
Bereits nach den ersten zwei Jahren
mit der neuen KESB habe er gesagt,
dass das System besser sei. Jetzt sei
er davon umso mehr überzeugt.
Die St.Galler SVP-Nationalrätin
Barbara Keller-Inhelder gehört zum
Lager der KESB-Kritiker. Als Mitinitiantin
der Volksinitiative «Mehr
Schutz für Familien» will sie das
Recht der Angehörigen gegenüber
der KESB stärken. Die Unterschriftensammlung
für die Initiative beginnt
in diesen Tagen. Konfrontiert
mit den aktuellen Zahlen, zeigt sie
sich skeptisch.
«Uns KESB-Kritikern
wird jeweils die Auskunft verweigert,
wenn wir uns für spezifische
Fallzahlen interessieren.» Sie räumt
jedoch ein: «Sollte sich herausstellen,
dass die KESB tatsächlich weniger
Massnahmen verfügt als die Vormundschaftsbehörden, würde
mich das freuen.» Auch eine Reduktion
der fremdplatzierten Kinder
würde Keller-Inhelder begrüssen:
«Mein persönlicher Eindruck
ist aber ein anderer.» Ein allfälliger
Rückgang bei den Gesamtzahlen
dürfe nicht dazu führen, bei Einzelfällen
wegzusehen.
Beschwerden meist abgelehnt
Eine Auflistung, wie oft die KESB
Fehlentscheide trifft, gibt es nicht.
Auf Nachfrage der «Schweiz am
Sonntag» präsentieren aber verschiedene
Kantone ihre Beschwerde-Statistik
(siehe Tabelle). Patrick Fassbind,
KESB-Leiter in Basel-Stadt, sagt,
dass jährlich nur gegen ein Prozent
der Entscheide Beschwerde geführt
werde und diese wiederum meistens
abgewiesen würden. Ähnlich tönt es
beim Kanton Graubünden. Elisabeth
von Salis sitzt in der Aufsichtsbehörde
der dortigen KESB. «Deutlich weniger
als ein Prozent aller Entscheide
unserer fünf Bündner KESB werden
angefochten. Und davon werden
grundsätzlich rund zehn Prozent
gutgeheissen», sagt sie. Beschwerden
gegen Fremdplatzierungen wurden
im vergangenen Jahr allesamt
vor Gericht abgewiesen.
«Viele Betroffene sind
einfache Leute, die keine
Erfahrung mit unserem
Rechtssystem haben.»
Barbara Keller-Inhelder, SVP-Nationalrätin
Die hohe Erfolgsquote der KESB vor Gericht ist für SVP-Nationalrätin Keller-Inhelder nur beschränkt
aussagekräftig. Merke eine KESB,
dass sie in einem Beschwerdeverfahren
unterliegen könnte, würden
Massnahmen oft abgebrochen. Zusätzlich
werde der Zugang zu den
Rekursinstanzen unnötigerweise erschwert. «Viele Betroffene sind einfache
Leute, die keine Erfahrung
mit unserem Rechtssystem haben.»
Legten sie eine Beschwerde ein,
sei die erste Reaktion der Justizbehörden
in manchen Fällen ein
Brief, mit dem auf die geringen
Erfolgsaussichten und die im Misserfolgsfall
anfallenden Kosten
hingewiesen werde: «Das schreckt
viele ab.»
Und doch: Die Abschaffung der
Vormundschaftsbehörden habe Verbesserungen
gebracht, findet auch
Keller-Inhelder. Die grosse Mehrheit
der KESB-Mitarbeiter leiste gute Arbeit:
«Die angestrebte Professionalisierung
wirkt sich vielerorts positiv
aus.» Das Problem seien die aktuellen
gesetzlichen Grundlagen. Sie
liessen zu, «dass nicht kompetente
Mitarbeiter hanebüchene Eingriffe
in die verfassungsrechtlich geschützten
Freiheitsrechte vornehmen
können».

Auch KESB-Kritikerin und SVP-Nationalrätin Barbara Keller-Inhelder gibt zu, dass die grosse Mehrheit der KESB-Mitarbeiter gute Arbeit leistet.Bild: KEYSTONE
KESB-Berater Häfeli sagt: «Mir ist
kein Fall bekannt, bei dem die KESB
bei der Fremdplatzierung schwerwiegende
Fehler gemacht hat.» Er
mache die Erfahrung, dass die Behörden
in diesem Bereich sehr zurückhaltend
seien. Ein grosser Vorteil
sei, dass die Kinder von der
KESB angehört würden. «Früher
wurde mit Entscheiden über sie verfügt.»
In den Anfängen der KESB seien
bestimmt Fehler passiert, räumt
Häfeli ein. Und dass sich die Behördenmitglieder
teilweise hinter Stillschweigen
verschanzen würden,
statt offensiver zu kommunizieren,
habe viel Raum für Spekulationen
gelassen. Doch alles in allem ist Häfeli überzeugt, dass Juristen, Psychologen
und Sozialarbeiter kompetenter
über ein Kinds- und Erwachsenenwohl
urteilen können als ein
Gemeinderat.
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