Wenn man als Babyboomer über die Rentenreform schreibt, gerät man schnell in den Verdacht des Eigennutzes. Auch ich wurde hier in der Kommentarspalte mit solchen Vorwürfen konfrontiert. Denn ich gehöre zur Übergangsgeneration ab 45, die von der Altersvorsorge 2020 doppelt profitiert: Vom 70-Franken-Zuschlag bei der AHV und der Besitzstandgarantie in der zweiten Säule.
Werde ich somit von egoistischen Motiven getrieben, wenn ich für ein Ja zur Reformvorlage am 24. September plädiere? Das wäre nicht professionell. Ich sehe durchaus kritische Punkte in der Monstervorlage, die von Ständeräten im «Hinterzimmer» ausgeheckt und einer hauchdünnen Mitte-Links-Mehrheit im Nationalrat durchgedrückt wurde, im Einklang mit Bundesrat Alain Berset.
Die «Aufstockung» der AHV um 70 Franken pro Monat für Neurentner ist fragwürdig. Sie kommt einer Generation zugute, die vom Drei-Säulen-Modell umfassend profitieren kann. Während die heutigen Pensionierten, die häufig kaum mehr als die AHV haben, leer ausgehen. Und die Erhöhung der Ehepaarrenten muss man als gesellschaftspolitischen Rückschritt betrachten.
Allerdings muss man die Motivation für diese Massnahmen bedenken. Sie sollen die Senkung des Umwandlungssatzes in der beruflichen Vorsorge von 6,8 auf 6 Prozent kompensieren. In dieser Hinsicht verstehen die Leute keinen Spass: Eine Umfrage des Versicherers AXA hat einmal mehr gezeigt, dass Rentenkürzungen in fast schon «nordkoreanischem» Ausmass abgelehnt werden.
Man kann sich streiten, ob es bessere Möglichkeiten zur Kompensation geben würde. Der springende Punkt, warum man dieser Vorlage zustimmen sollte, ist jedoch ein anderer: Seit 1995 ist keine Reform der Altersvorsorge mehr gelungen. Zwei Anläufe scheiterten in der Volksabstimmung am Widerstand vorwiegend von links, ein weiterer wurde bereits im Parlament versenkt.
Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum haben den Reformdruck in den letzten 20 Jahren gemildert. Nun aber geht es ans Eingemachte, denn die grosse Pensionierungswelle bei den Babyboomern steht bevor. Der Druck auf das System wächst. Einen weiteren Scherbenhaufen bei der Reform der Altersvorsorge kann sich die Schweiz schlicht und ergreifend nicht leisten.
Die Gegner der Rentenreform sehen gerade im zunehmenden Druck eine Chance für einen raschen Neuanfang. «Ich vertraue der Politik, dass sie rechtzeitig eine Lösung findet», meint Pro-Single-Präsidentin Sylvia Locher, die die Reform unter anderem wegen der höheren Ehepaarrenten ablehnt. Das ist mit Verlaub naiv. «Plan B» der Gegner überzeugt hinten und vorne nicht.
Er sieht vor, die Rentenreform in scheinbar verträgliche Portionen aufzuteilen. In einem ersten Schritt sollen die Erhöhung des Frauenrentenalters und eine Zusatzfinanzierung für die AHV beschlossen werden. Vorausgesetzt wird, dass das Ja der Linken zum Rentenalter 65 für Frauen in Stein gemeisselt ist. Dabei gibt es bereits Signale, die auf das Gegenteil hindeuten.
Im Kontext der nun vorliegenden Reform haben Linke und Grüne diese Kröte geschluckt. In einer gesonderten Vorlage dürften sie zurück in den Kampfmodus schalten. Die Umfragen zur Altersvorsorge 2020 zeigen, dass die Vorbehalte gerade bei den Frauen gross sind. Warum sollen sie die «Gleichstellung» beim Rentenalter akzeptieren, wenn sie bei Lohngleichheit, Karrierechancen oder Kinderbetreuung weiterhin benachteiligt werden?
Die Absturzgefahr ist folglich schon bei der ersten Stufe von «Plan B» akut. Kaum besser sieht es beim folgenden Schritt aus, der Kompensation für den tieferen Umwandlungssatz bei den Pensionskassen durch die Abschaffung des so genannten Koordinationsabzugs. Sie belastet gerade die Geringverdiener durch höhere Lohnbeiträge.
Mit anderen Worten: «Plan B» ist nicht der Königsweg zu einer besseren Reform, sondern eine Hochrisiko-Strategie. Die nun vorliegende Altersvorsorge 2020 hingegen ist trotz aller Kritikpunkte als Gesamtpaket überzeugend genug, um zumindest für einige Jahre für Entspannung zu sorgen.
Martin Eling, Professor für Versicherungswirtschaft an der Universität St.Gallen, brachte es in der «NZZ am Sonntag» auf den Punkt: «Lieber diese Reform als keine.» Eine Vorlage, die von Gewerkschaftern (Corrado Pardini, Paul Rechsteiner) und wirtschaftsnahen CVP-Vertretern (Pirmin Bischof, Gerhard Pfister) genauso unterstützt wird wie von Feministinnen (Christiane Brunner, Regula Rytz) oder namhaften Unternehmen (Migros, Roche), kann so schlecht nicht sein.
Das gilt auch für die Kritik von Seiten der Jungen. Die frühere Sozialministerin Ruth Dreifuss verweist darauf, dass gerade sie unter der heutigen Situation bei den Pensionskassen leiden. Wegen des überhöhten Umwandlungssatzes komme es zu einer Umverteilung von den Jungen zu den Alten. Was einem System widerspricht, in dem jeder sein eigenes Alterskapital bilden sollte.
Die Rentenreform stellt folglich in einem ersten Schritt nicht eine Belastung für die Jungen dar, sondern eine Entlastung. Was die Opposition von Jungfreisinnigen und Co. umso bizarrer macht. Mittel- bis langfristig wird die Situation für die jüngeren Generationen durch den demografischen Wandel zweifellos schwierig, aber keineswegs unlösbar. Es ist alles eine Frage des Willens.
Die Schweiz könne diese Herausforderung bewältigen, zeigte sich Martin Kaiser, Ressortleiter Sozialpolitik beim Arbeitgeberverband und Impulsgeber des Nein-Lagers, im Gespräch mit watson überzeugt. Er hat recht. Wir haben alle Voraussetzungen für eine Diskussion auch über heikle Themen wie zusätzliche Finanzierungsquellen oder ein höheres Rentenalter.
Das kann aber nicht geschehen, wenn der Reformdruck immer weiter ansteigt. Deshalb braucht es ein Ja zur Altersvorsorge 2020. Sie ist das Ventil, durch das ein Teil dieses Drucks entweichen kann. Und sie bildet das Fundament für eine möglichst unverkrampfte Debatte darüber, wie unsere Rentensysteme auch in den kommenden schwierigen Jahrzehnten über die Runden kommen.