In der Politik sind nicht immer die Politiker selbst die wichtigsten Akteure. Eine beträchtliche Rolle spielen auch die Einflüsterer und Drahtzieher im Hintergrund. Martin Kaiser gehört dazu. Als Ressortleiter Sozialpolitik beim Schweizerischen Arbeitgeberverband hat er formell keine besonders einflussreiche Position. Beim Thema Altersvorsorge aber gehört er zu den Keyplayern.
Mit Wirtschaftsverbänden, FDP und SVP bekämpft der 50-Jährige die Reform, über die am 24. September abgestimmt wird. Für die ehemalige Aargauer Ständerätin Christine Egerszegi, FDP-Mitglied wie Kaiser, in der Rentenfrage aber auf der Gegenseite, ist er «die zentrale Figur» des Nein-Lagers.
Als früherer Vizedirektor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) ist ihm die Materie bestens vertraut. «In jeder Sitzung im Nationalrat tauchte eine neue Idee von ihm auf», erinnert sich CVP-Nationalrätin Ruth Humbel. Die Mitte-Links-Allianz liess sich bis zuletzt nicht erschüttern, zum Ärger von Martin Kaiser. «Es scheint sein Lebensziel zu sein, die Altersvorsorge zu bodigen», meint Humbel.
Was treibt diesen Mann an? Beim Treffen am Verbandssitz in Zürich kommt Martin Kaiser sogleich zum aus seiner Sicht springenden Punkt: Den strukturellen Wandel aufgrund der demographischen Alterung. «In 30 Jahren wird die Schweiz nahezu doppelt so viele Rentner haben wie heute», rechnet Kaiser vor. «Das hat brutale Auswirkungen auf verschiedene Gebiete, darunter die Altersvorsorge. In den nächsten zehn Jahren gehen etwa 400'000 Leute mehr in Pension, als Junge nachrutschen.»
Die Schweiz könne dies bewältigen, ist Kaiser überzeugt. In den letzten Jahren gelang es dank Wirtschaftswachstum und Zuwanderung, mehr Einnahmen zu generieren. «Es geht uns noch gut, aber der Wandel kommt», mahnt Kaiser. Die grosse Welle bei der Pensionierung der Babyboomer finde zwischen 2020 und 2035 statt. Trotzdem sehe die Altersvorsorge 2020 einen Ausbau bei der AHV vor: «Ich kenne kein zweites Land, das sich ernsthaft solche Überlegungen macht.»
Dabei erfüllt die Vorlage einige Anliegen der Gegenseite, etwa das Frauenrentenalter 65 oder die Senkung des BVG-Umwandlungssatzes. «80 Prozent der Forderungen der Wirtschaft sind erfüllt», sagt Befürworterin Ruth Humbel. Ihr Gegenspieler beim Arbeitgeberverband macht eine andere Rechnung. Die Vorlage enthalte positive Aspekte, räumt Martin Kaiser ein: «Aber wenn 30 Prozent eines Pakets passen und 70 Prozent nicht, muss man einen neuen Anlauf nehmen.»
Es brauche eine Kompensationslösung für den tieferen Umwandlungssatz, sagt Kaiser und grenzt sich damit ab von den Hardlinern, die auf eine Kompensation verzichten wollten. «Die schlechte Alternative wäre nichts tun und abwarten, bis die Karre im Dreck steckt.» Der Zuschlag von 70 Franken bei der AHV für Neurentner aber ist für ihn ein Irrweg, eine Neuauflage der abgelehnten Volksinitiative AHVplus.
Kaiser deutet auf Schwachpunkte der Reform: «Heutige Rentner, die oft nur wenig haben, erhalten keinen Zuschlag. Dafür gibt man ihn den künftigen Rentnern, denen es überwiegend besser geht.» Ausgerechnet die ärmsten Neurentner, die Ergänzungsleistungen beziehen, hätten sogar ein paar Franken weniger im Portemonnaie.
Beim Kampf gegen die Reform setzt Kaiser auf die Jungen, die langsam realisieren würden, dass das Loch grösser werde. Auch bei den Alten wachse dieses Bewusstsein. Er habe mit einem 63-jährigen Mechaniker und vierfachen Grossvater gesprochen, der doppelt profitieren würde, dank den 70 Franken und der Besitzstandsgarantie im BVG. «Trotzdem findet er, dass das gegenüber seinen Enkeln nicht fair ist.»
In seinen Ausführungen lässt sich Martin Kaiser durch nichts erschüttern. Das Argument, ein Ja zur Vorlage mache weitere Reformschritte erst möglich, inklusive höheres Rentenalter, lässt er ins Leere laufen. In solchen Momenten versteht man, warum Christine Egerszegi und Ruth Humbel ihm unabhängig voneinander vorwerfen, er habe sich in seiner Position «festgebissen».
Spielt hier seine Vergangenheit beim BSV eine Rolle? Angeblich wollte Martin Kaiser Amtsdirektor werden, doch Bundesrat Alain Berset habe ihn bei der Besetzung übergangen. Dies habe Spuren hinterlassen, meint Egerszegi. Kaiser selbst weist dies nachdrücklich zurück. Tatsache ist, dass er 2013 den Bund verlassen und beim Arbeitgeberverband angeheuert hat.
Im Falle einer Ablehnung der Vorlage am 24. September sei eine neue Reform «innert nützlicher Frist» möglich, ist Martin Kaiser überzeugt. Er verweist auf die im Februar an der Urne gescheiterte Unternehmenssteuerreform III: Ihr «Plan B» sei bereits in der Vernehmlassung. Die Befürworter bezeichnen dies für die Rentenreform als illusorisch. Kaiser jedoch verweist darauf, dass bei allen vier Bundesratsparteien ein Grundkonsens bei den wichtigsten Fragen vorhanden sei.
«Selbst die SVP trägt eine höhere Mehrwertsteuer mit und die SP das höhere Rentenalter für Frauen.» Zudem wäre nach einem zweiten Nein innert Jahresfrist nach AHVplus die Idee des Giesskannenausbaus selbst für Reiche definitiv gescheitert. «Das Volk will keine Experimente mit unserer AHV – davon bin ich überzeugt.»
Gefordert sei Sozialminister Berset. Er müsse die Parteien und Sozialpartner an einen Tisch holen: «Wenn man sich auf die unbestrittenen Punkte konzentriert, kann es schnell gehen.» Reformen in der Sozialpolitik seien immer dann erfolgreich gewesen, wenn die Sozialpartner dahinter standen. «In diesem Fall geschah dies nicht, und das war ein grosser Fehler.»
Die Gegner wollen die Reform in mehrere Etappen aufteilen: «Eine Portionierung in verträglichen Schritten ist schweizerischer als ein vermeintlich grosser Wurf. Man macht, was man für die nächsten Jahre braucht, und sieht, wie sich die Sache entwickelt. Deshalb ist für mich heute Rentenalter 67 kein Thema», sagt Kaiser.
CVP-Nationalrätin Ruth Humbel kann dem wenig abgewinnen. Sie verweist auf frühere Anläufe: «2010 wurde ein höheres Frauenrentenalter schon im Nationalrat abgelehnt. Im gleichen Jahr scheiterte eine Senkung des Umwandlungssatzes in der Volksabstimmung.» Ausserdem werde die Rentenreform von links und rechts bekämpft: «Ein Nein wird nicht leicht zu interpretieren sein.»
Auch Martin Kaiser will sich zum Inhalt einer neuen Reform nicht äussern: «Ich mache keine materiellen Aussagen. Man muss sich einfach zusammensetzen.» Als Beobachter sei ihm aufgefallen, wie gross die Bereitschaft einiger politischer Lager und der Wirtschaft war, aufeinander zuzugehen und beispielsweise «etwas bei den Minimalrenten zu machen». Entsprechende Vorstösse seien im Ständerat eingereicht, aber ohne echte Debatte gleich wieder verworfen worden. «Die Bereitschaft zu einem gewissen Pragmatismus war vorhanden», sagt Kaiser.
Martin Kaiser wirkt in der Tat nicht wie ein sozialpolitischer Scharfmacher, der die Altersvorsorge am liebsten privatisieren würde. Als Präsident des Vereins Compasso setzt er sich für die berufliche Wiedereingliederung von Menschen mit gesundheitlichen Problemen ein. Dennoch bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Geht es ihm wirklich nur um die Sache, oder spielt nicht doch verletzte Eitelkeit eine Rolle?
Im Abstimmungskampf wird sich der «Einflüsterer» an die Front begeben und in Referaten und an Podiumsdiskussion erklären, warum man die Rentenreform ablehnen soll: «Die Vorlage geht in die falsche Richtung. Sie vergrössert die Probleme, statt sie zu verkleinern.»