Für die Schweiz wird gerne der Begriff Willensnation verwendet. Wir haben keine gemeinsame Sprache und Kultur, uns hält allein der Wille zusammen, eine nationale Einheit zu bilden. In der Realität kann von einem Zusammenleben der Sprachregionen kaum die Rede sein. Wir leben eher aneinander vorbei und geben uns Mühe, einander nicht in die Quere zu kommen.
Dieser nationale Zusammenhalt funktioniert in der Regel ganz gut, auch wenn sich die Tessiner nicht zu Unrecht darüber beklagen, dass sie vom Rest des Landes vernachlässigt werden. Das Verhältnis zwischen Deutschschweiz und Romandie aber ist leidlich entspannt, erst recht seit der ominöse «Röstigraben» in Volksabstimmungen kaum noch eine Rolle spielt.
Nun aber ist der helvetische Sprachfrieden ernsthaft gefährdet. Das Thurgauer Kantonsparlament hat diese Woche beschlossen, den Französischunterricht an den Schulen auf die Sekundarstufe zu verlegen. In den Primarschulen soll als einzige Fremdsprache Englisch unterrichtet werden. Die Befürworter begründeten den Entscheid mit der Überforderung vieler Schülerinnen und Schüler.
Der Beschluss ist nicht definitiv, dürfte aber kaum umgestossen werden. Die Reaktionen in der Westschweiz fielen heftig aus. Die Entscheidung der Thurgauer sei «nicht akzeptabel», sagte der Walliser SP-Nationalrat Mathias Reynard. Die Zeitung «24heures» meinte, der Thurgau lasse den «Sprachenkrieg» wieder aufleben und hielt in einem Kommentar fest, der Entscheid sei «von Egoismus geprägt».
Sind das nur überempfindliche Reaktionen von welschen Sensibelchen? Die partout nicht einsehen wollen, wie wichtig die Weltsprache Englisch ist? Man kann durchaus argumentieren, dass zwei Fremdsprachen in der Primarschule zu viel sind. Wichtiger sei, dass die Lernziele bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit erfüllt seien, meinen die Frühfranzösisch-Gegner.
Pardonnez-moi, aber solche Argumente zielen am Grundproblem vorbei. Es zeigt sich beim Blick auf die Sprachenkarte: In der Westschweiz lernen die Kinder als erste Fremdsprache Deutsch, diesseits der Saane aber Englisch. Besonders deutlich manifestiert sich dieser Zustand im dreisprachigen Graubünden. Im deutschsprachigen Kantonsteil dürfen die Primarschüler zuerst Englisch lernen, die Rätoromanen und Italienischbündner aber müssen Deutsch büffeln.
Das ist die Realität des helvetischen «Sprachenkompromisses»: Die Minderheiten lernen zuerst die Mehrheitssprache, ohne die man national kaum Karriere machen kann. Wir Deutschschweizer aber gönnen unseren Kindern die Freuden des Englischen. Wen wundert es da, dass die Angriffe der Deutschschweizer auf das Frühfranzösisch im Welschland als arrogant empfunden werden?
Was wäre die Lösung dieses Dilemmas? Wohlmeinende «Totos», wie uns manche Romands etwas despektierlich nennen, schlagen einen Schüleraustausch zwischen den Regionen oder gar eine Wiederbelebung des Welschlandjahrs vor. Im Grundsatz ist das absolut richtig, wir kennen uns ohnehin zu wenig. Die Idee hat nur einen gewaltigen Haken: Die Westschweiz ist viermal kleiner als die Deutschschweiz und wäre mit einem «Ansturm» heillos überfordert.
Der zuständige Bundesrat Alain Berset, als Freiburger für dieses Thema besonders sensibilisiert, hat mit einer Intervention des Bundes gedroht, sollte der Frühfranzösisch-Unterricht in der Deutschschweiz weiter unter Druck kommen. In der Romandie gibt es zudem Pläne für eine Volksinitiative. Diesen Abstimmungskampf aber will man lieber nicht erleben, er dürfte hässlich werden.
Es gibt nur einen vernünftigen Ausweg: Alle Kinder in der Schweiz lernen als erste Fremdsprache zwingend eine Landessprache. In der Deutschschweiz wäre dies Französisch oder Italienisch. Man schlägt damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Sprachfrieden wäre gewahrt, und der Unterricht an den Primarschulen liesse sich ohne grössere Reibereien auf eine Sprache beschränken.
Englisch lernen die Kinder sowieso, das sagen auch Fachleute. Die Sprache Shakespeares ist omnipräsent. Selbst Chüngelizüchtervereine geben sich heute Namen wie SwissRabbit. Es schadet überhaupt nicht, wenn der Unterricht erst auf der Sekundarstufe stattfindet. Allenfalls könnte man Englisch in den Primarschulen als Wahlfach anbieten.
Einen möglichen Entscheid in diese Richtung könnte es schon bald geben. Am 21. Mai stimmt der Kanton Zürich über eine aus Lehrerkreisen lancierte Fremdspracheninitiative ab. Sie verlangt ebenfalls, dass an den Primarschulen nur noch eine Fremdsprache unterrichtet wird. Welche es sein soll, lassen die Initianten offen. Der Regierungsrat hat durchblicken lassen, dass er sich für Französisch entscheiden und Englisch in die Oberstufe «verbannen» wird.
Als Stimmberechtigter im Kanton Zürich neige ich zu einem Ja und hoffe darauf, dass die Regierung im Fall einer Annahme ihrer Linie treu bleiben wird. Ein Entscheid des grössten Schweizer Kantons für Frühfranzösisch und gegen Englisch hätte Signalwirkung für das ganze Land. Der Thurgau wird sich dann hoffentlich eines Besseren besinnen und seinen Entscheid revidieren.
Ja, Französisch ist mühsam, ich habe mich als Schüler auch damit schwer getan. Aber ich möchte den Unterricht keinesfalls missen. Auch andere Fächer sind schwer und werden später kaum noch gebraucht. Und heisst es nicht immer, die Volksschule sei wichtig für die Integration? Das gilt auch für die innerschweizerische Integration, die Bildung einer echten Willensnation.
Deshalb, liebe Thurgauer und andere «Abtrünnige»: Français, s'il vous plaît!