Digital Natives? Von wegen! Die Lüge einer Generation
bild: João Silas
Alle denken, die Jungen würden das Neue verstehen. Doch in Tat und Wahrheit überschätzt man die Jahrtausend-Überflieger enorm. Und sie sich selber auch.
Wir sind eine Generation von Ahnungslosen. Wären da keine Suchmaschinen, hätten wir keinen blassen Schimmer, wie Back-Ups, WLAN-Installationen oder Dokument-Formatierungen funktionieren. Wie auch? Niemand hat es uns wirklich beigebracht!
Und trotzdem gelten wir, die nach anno 1980 Geborenen, als die verheissungsvolle Generation der «Digital Natives». Unsere (zukünftigen) Chefs stellen sich uns als rentable Multitasker vor. Für unsere Eltern sind wir eine Armada von Mark-Zuckerberg-Duplikaten. Und das nur, weil wir das mutmasslich gelöschte Internet wieder auf den Desktop zurückgeholt haben. Oder aus dem Grund, dass wir es schaffen, zwei Bildschirme miteinander zu verbinden. Magie.
Wessen Lieblingsbeschäftigung war das als Kind?Bild: scholastic via imgur
Doch dass manche von uns schon beim Erstellen von Excel-Tabellen oder beim Einrichten eines synchronisierten Posteingangs scheitern, mögen Ü-35er nicht gerne hören. Aber die Ergebnisse einer aktuellen Studie zeigen, dass die Existenz der sogenannten «Digital Natives» ein Mythos ist.
Alle haben dasselbe Gehirn
Die niederländische Studie, die kürzlich im renommierten Fachjournal «Teaching and Teacher Education» erschienen ist, geht von der Annahme aus, dass es kognitive Differenzen zwischen Digital Immigrants und Digital Natives geben soll. Dass also jemand, der vor der Digitalisierung (vor 1980) geboren ist, seinen Arbeitsalltag anders bewältigen muss, als eine jüngere Person, die mit der digitalen Technik quasi aufgewachsen ist.
«Digital Natives» vs. «Digital Immigrants»
Geprägt wurden diese zwei Begriffe durch ein 2001 veröffentlichtes Essay von Marc Prensky, das konstatiert, dass Menschen mit Jahrgang 1980 und höher mit der wachsenden Digitalisierung verschmelzen und einen selbstverständlichen Umgang mit ihr entwickeln würden. Sie seien in die Digitalisierung hinein geboren, während alle älteren Semester in dieses neue Zeitalter hinein immigrieren und sich den Umgang mit der neuen Technik mühsam aneignen müssten. Digital Natives sollen indes produktiver arbeiten, da sie es durch ihre Technik-Versiertheit gewohnt sind, mehrere Arbeiten gleichzeitig zu meistern.
Die Autoren der Studie stellen aber schnell fest, dass es keine grossen Differenzen zwischen den beiden «Generationen» zu finden gibt. Sie halten fest, dass jene Alters-Einordnung eine verklärte Sichtweise darstelle.
Denn auch wenn wir 17 Browser-Tabs gleichzeitig geöffnet haben, konzentriere sich unser Hirn immer nur auf eine Sache aufs Mal. Wir glauben zwar, dass wir an zwei oder mehr Aufträgen gleichzeitig arbeiten können, doch in Wirklichkeit sind wir mit dem Kopf jeweils immer nur bei einem Punkt.
«Wir alle haben bloss ein Gehirn, das uns jeweils erlaubt, auch nur eine Aufgabe auf einmal zu bearbeiten.»
Deshalb werden Arbeitsaufträge von jüngeren Mitarbeiterinnen auch nicht schneller erledigt als von den älteren Kollegen. Im Gegenteil! Die Studie arbeitet heraus, dass das mutmassliche Multitasking der Effizienz sogar schadet. Die sogenannten Digital Natives verzetteln sich während der Arbeit und werden ihrem Ruf der wirtschaftlichen Effizienz-Bomben schliesslich alles andere als gerecht.
Sinnbild: Gehirn-Vorgänge eines Digital Natives bei seinem attestierten Steckenpferd, dem Multitasking.bild: imgur
Und wie steht's um unsere exorbitante Technik-Affinität? Fehlanzeige. Auch hier stellen die Forscher mittels Umfragen fest, dass es empirisch nicht nachweisbar ist, dass Post-80er-Kinder geschickter im Umgang mit Computern und anderen Geräten sind als ältere Jahrgänge. Im pädagogischen Teil der Studie wird darauf hingewiesen, dass mittlerweile schon Bildungsinstitutionen Schülerinnen und Schülern Fähigkeiten unterstellen, die sie in Wirklichkeit nicht haben. Es würde schlicht angenommen, dass unter 35-Jährige mit Technik umgehen können, weil sie ja damit aufgewachsen seien.
Mensch und Technik verschmelzen – angeblich.bild: tom galle & @ john yuyi
Als Folge davon wird uns der Umgang mit Adobe Programmen wie Photoshop und Illustrator, aber auch rudimentärere Tätigkeiten, wie das Erstellen einer etwas komplexeren Excel-Tabelle, nicht mehr beigebracht. Falls wir es doch können müssen, helfen Youtube-Tutorials und Überstunden.
«Wir müssen alle Menschen gleich behandeln, nämlich als kognitiv Lernende, und aufhören, einer spezifischen Gruppe spezielle Fähigkeiten zuzuschreiben.»
Unsere Generation der Jahrtausend-Überflieger ist also nicht immun gegen das gelegentliche Abchecken von WhatsApp-Nachrichten während der Arbeit. Wir haben kein an die Digitalisierung angepasstes Gehirn, das uns vor Ablenkung schützt und wir kamen auch nicht mit Photoshop-Skills auf die Welt. Das müssen die älteren Semester verstehen – aber vor allem auch wir selbst.
Bilder aus der prädigitalen Zeit: Die Fotografien eines Dorfwirts
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Bilder aus der prädigitalen Zeit: Die Fotografien eines Dorfwirts
Eigentlich arbeitete er als Wirt in einer klassischen Dorfbeiz. Aber Alfons Rohrer (1925 - 1998) war ebenfalls ein unermüdlicher Fotograf. Bild: «Feuerwehrübung», Scheidegger & Spiess / Musée Jenisch Vevey
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