Seit dem Beitritt zum Schengen-Raum 2008 ist die Schweiz ein Teil des schrankenlosen Europa. Wir gewöhnten uns schnell und gern an das Reisen ohne Grenzkontrollen durch weite Teile des Kontinents. Umso heftiger war der Schock, als mit der Corona-Pandemie die Grenzen von einem Tag auf den anderen dicht gemacht wurden.
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Von der Rückkehr des Nationalstaats war die Rede, einer Re-Nationalisierung Europas. Manche EU-Gegner rieben sich auch hierzulande voller Vorfreude die Hände. Sie dürften einmal mehr falsch liegen. Der Drang zur Grenzöffnung ist so stark, dass sich die EU-Kommission am Mittwoch eiligst bemühte, einen eigenen Öffnungsplan vorzulegen.
Die stark eingeschränkte Reisefreiheit soll schrittweise wiederhergestellt werden. Dabei gilt es, auf die unterschiedliche Betroffenheit durch das Coronavirus Rücksicht zu nehmen. Bereits am Mittwoch einigte sich die Schweiz mit den Nachbarländern Deutschland, Österreich und Frankreich, die Grenzen ab 15. Juni vollständig zu öffnen.
An der deutschen Grenze soll es schon ab Samstag Lockerungen geben. Der «triftige Grund» für eine Einreise könnte ziemlich grosszügig ausgelegt werden. Das stark vom Tourismus abhängige Österreich hätte gerne sofort geöffnet, doch die Franzosen traten auf die Bremse. Sie leiden wesentlich mehr unter der Pandemie als die anderen Länder.
Andere Länder haben ebenfalls Erleichterungen beim Grenzverkehr beschlossen. Diese Entwicklung zeigt, dass Europa stärker zusammengewachsen ist, als die notorischen EU-Gegner wahrhaben wollen. Der freie Personen- und Warenverkehr, der Fremdenverkehr und nicht zuletzt das Zwischenmenschliche haben wesentlich dazu beigetragen.
An kaum einem Ort zeigte sich dies so deutlich wie am Zaun zwischen Kreuzlingen und Konstanz, der nach der Grenzschliessung hochgezogen wurde. Liebespaare, Familien, Freunde konnten sich auf einmal nicht mehr treffen. Es kam zu herzzerreissenden Szenen, bis zu Küssen durch das Drahtgeflecht, weshalb ein zweiter Zaun errichtet wurde.
Auf beiden Seiten der Grenze hielt sich das Verständnis in Grenzen. Deutsche fühlten sich an die Teilung ihres Landes erinnert. Am Montag forderten der Kreuzlinger Stadtpräsident und der Oberbürgermeister von Konstanz die Regierungen in Berlin und Bern «dringlich» auf, die Grenze zu öffnen und «die massiven Einschränkungen für unsere Bevölkerung aufzuheben».
Als Justizministerin Karin Keller-Sutter am Mittwoch vor den Medien auf den Zaun angesprochen wurde, bemühte sich die Ostschweizerin wortreich, die Verantwortung von sich zu weisen. Sie habe die Errichtung nicht angeordnet. Tatsächlich hatte der Regionale Führungsstab Kreuzlingen den zweiten Zaun gebaut, weil sich zu viele Personen an der Grenze versammelt hätten.
Diese Entwicklung ist nicht ohne Ironie, denn bereits 1939 hatte die Schweiz erstmals einen Zaun zwischen Kreuzlingen und Konstanz errichtet, um Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland abzuschrecken. Er blieb noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs stehen. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, fragten sich die Konstanzer, wozu es den Zaun überhaupt noch brauche.
Es waren die seit dem Krieg auf Igel-Mentalität eingestellten Schweizer, die sich lange gegen den Abbau wehrten. Ab 1999 war es soweit, der Zaun wurde in mehreren Etappen entfernt. Die heutige Forderung nach einer raschen Öffnung zeigt, wie sich die Zeiten geändert haben. Zäune werden nicht mehr als Schutz betrachtet, sondern als Hindernis.
Das gilt für die meisten Grenzregionen, selbst für das Tessin, das mit Italien in einer Art Hassliebe verbunden ist. Denn man ist in der Schweiz auf die Grenzgänger angewiesen. Umgekehrt freut man sich im nahen Ausland über die zahlungskräftigen Schweizer Einkaufstouristen. Von dort kommt denn auch der grösste Druck auf die Regierungen.
Die Zugehörigkeit zu Schengen hat uns vielleicht europäischer gemacht, als viele wahrhaben wollen. Ein Indiz ist auch die Schlagzeile auf der «Blick»-Titelseite vom Mittwoch. «Ferien am Meer!» verhiess das Boulevardblatt mit dicken Buchstaben. Und reichlich vollmundig, denn noch ist nicht klar, ob und wie Strandferien möglich sein können.
Viele Länder bleiben vorsichtig, besonders das leidgeprüfte Italien. Denn die Entwicklung der Infektionskurve bleibt der wesentliche Indikator für das Ausmass der Öffnung von Grenzen und touristischen Einrichtungen. Manchen Epidemiologen treibt allein die Aussicht den Schweiss auf die Stirne, denn mit den Menschen wird auch das Virus mobiler.
Der Traum von offenen Grenzen und Ferien am Strand könnte rasch platzen. Und wie «europäisch» wir sind, wird sich am 27. September bei der Abstimmung über die Begrenzungsinitiative der SVP zeigen. Sie zielt in erster Linie auf die Personenfreizügigkeit, aber die SVP verheimlicht nicht, dass sie dauerhaft Grenzkontrollen einführen möchte.
Ihre Exponenten protestieren gegen die Rückkehr zum Schengen-System am 15. Juni. Nicht ohne zu betonen, dass Touristen und Geschäftsleute willkommen sind, ebenso Fachkräfte aus der EU. Wenn es ums Geld geht, ist eben auch die SVP viel europäischer, als sie sich eingestehen will. Selbst in ihren Köpfen ist so manche Barriere gefallen.
Ein z.B. Zürcher oder Innerschweizer (und 90% der nationalen Medien sind halt mittlerweile dort konzentriert) denkt bei einem Zaun in Kreuzlingen (oder auch Basel) an "die Deutschen" und "die Schweizer".
Die Anwohner dort denken aber nur an "die Konstanzer" und "die Kreuzlinger", unabhängig davon wie die "Schweizer Mentalität" als Gesamtes ist.
Es ist schon ein Privileg, wenn die Stadtgrenze nicht Teil von nationalen Politiken ist. Als Gedankenexperiment könnte man sich ja vorstellen,dass die Grenze z.B. zwischen Zürich und Wallisellen verlauft.