«Der Kluge reist im Zuge» ist der wohl bekannteste Slogan der SBB. Kreiert wurde er in den 1950er Jahren. Heute muss sich der Bahnreisende häufig fragen, ob er noch ganz bei Trost ist. Auf vielen Bahnhöfen stauen sich die Pendler in den Stosszeiten in den Unterführungen und auf den Perrons. Am schlimmsten sieht es in Lenzburg im Aargau aus. «Die Situation dort ist an der Grenze», sagte der zuständige SBB-Bereichsleiter letztes Jahr der «NZZ am Sonntag».
Wer den Bahnhof Lenzburg kennt, wundert sich nicht. Der Perron zwischen Gleis 2 und 3 ist schmal, gleichzeitig sausen hier die Schnellzüge auf der Ost-West-Achse vorbei. Da kann es schon mal brenzlig werden. Aus Sicherheitsgründen haben die SBB das Wartehäuschen abgerissen, um Platz zu schaffen. Nötig wäre ein Aus- und Umbau des Bahnhofs, doch der beginnt nicht vor 2022. Auch auf anderen Bahnhöfen im Aargau, dem Pendlerkanton schlechthin, ist die Lage prekär.
Die Diagnose ist einfach: Die Bahnstationen werden von Menschenmassen frequentiert, für die sie nicht gebaut wurden. Die Ursache aber wird kaum thematisiert. Sie ist der Elefant im Raum, den alle wahrnehmen, über den aber niemand spricht. Das starke Bevölkerungswachstum der letzten Jahre bringt die Infrastrukturen in der Schweiz an den Anschlag. Ursache ist die Zuwanderung, bedingt durch die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union.
Wer die Augen vor Problemen verschliesst, erlebt irgendwann das böse Erwachen. Genau dies geschah vor drei Jahren, bei der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative.
Für viele war das Ergebnis ein Schock. Dabei konnte man es kommen sehen. Ich beschrieb damals in einem meiner ersten Artikel für watson, wie ich vom Befürworter zum Skeptiker der Zuwanderung wurde. Meine Kritik zielte in erster Linie auf die Ignoranz und Arroganz der Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien gegenüber den negativen Folgen der Migration.
Mit dem Text habe ich mir nicht nur Freunde gemacht, um es nett zu formulieren. Das Ergebnis der Abstimmung bestätigte mich auf eine Weise, die ich lieber nicht erlebt hätte. War der MEI-Schock wenigstens heilsam? In einem Punkt bestimmt: Die unreflektierten Lobeshymnen auf die Zuwanderung und das Kleinreden ihrer «Nebenwirkungen» sind weitgehend verschwunden.
Was aber ist konkret passiert? Die Bilanz ist ernüchternd, und deshalb habe ich nach Ablauf der dreijährigen Umsetzungsfrist keinen Grund, meine Skepsis zu revidieren. Das Parlament hat mit Hängen und Würgen eine Umsetzungsvorlage beschlossen. Die mediale Berichterstattung über dieses Thema aber steht in keinem Verhältnis zum mageren Ergebnis. Es enttäuscht selbst angesichts der Vorgabe, die bilateralen Verträge mit der EU keinesfalls zu gefährden.
Justizministerin Simonetta Sommaruga hatte ursprünglich eine strikte Umsetzung angekündigt. Nun verkriecht sie sich hinter dem Parlament und verteidigt die zahnlose Umsetzung im SRF-Interview mit dem Argument: «Andere Staaten beneiden uns schon darum.» Worum sollen sie uns beneiden? Der so genannte «Inländervorrang» ist gar keiner. Es handelt sich um einen sektoriellen Arbeitslosenvorrang, der so gut wie keinen Einfluss auf die Zuwanderung haben wird.
2016 wuchs die Wohnbevölkerung netto um 60'000 Personen. Das ist weniger als noch vor einigen Jahren, aber auch diese Leute müssen vom Wohnungs- und Arbeitsmarkt «absorbiert» werden. Mag sein, dass der steile Anstieg der Mieten seit 2015 abgeflacht ist. In den grossen Zentren und Agglomerationen aber hat sich die Lage höchstens im Segment der Luxuswohnungen entspannt. Bezahlbare Unterkünfte findet man in Orten wie Egerkingen, wie der «Tages-Anzeiger» berichtete. Die Solothurner Gemeinde liegt verkehrstechnisch günstig, aber wer will dort wohnen?
Das Pendeln ist nicht nur auf den verstopften Bahnhöfen und im oft überfüllten öffentlichen Verkehr mühsam. Die Zahl der Staustunden auf den Autobahnen steigt Jahr für Jahr an. Man kann es nicht leugnen: Die kleinräumige Schweiz hat keine Kapazitäten für neun oder zehn Millionen Einwohner. Ein Ausbau der Infrastruktur ist schwierig und teuer. Die Züge lassen sich nicht endlos verlängern, und «verdichtetes Bauen» findet man gut, so lange es nicht vor der eigenen Nase stattfindet.
Ohnehin träumen viele Menschen nicht vom Wohnen in Hipster-Genossenschaften wie der Kalkbreite in Zürich. Das Jugendbarometer der Credit Suisse ergibt alljährlich das gleiche Bild: Das Wohnideal der jungen Leute ist das Einfamilienhaus, möglichst mit Umschwung. In den grossen Agglomerationen aber ist der Traum vom «Hüsli» schon heute für Normalverdiener kaum noch erschwinglich. Ändern liesse sich das wohl nur, wenn das Mittelland zubetoniert würde.
Hat sich wenigstens die Lage auf dem Arbeitsmarkt beruhigt? Immerhin ist der Fachkräftemangel ein Dauerthema. Die Realität ergibt ein weniger eindeutiges Bild, wie die SRF-Sendung «Eco» berichtete. Fachkräfte in der Schweiz sind arbeitslos, weil insbesondere grosse Unternehmen Bewerbungen durch Algorithmen vorsortieren. Wer nicht zu 100 Prozent dem Stellenprofil entspricht, hat demnach keine Chance. Rekrutiert wird in solchen Fällen häufig im Ausland.
Nach der MEI-Abstimmung wurde eine bessere Ausschöpfung des einheimischen Arbeitskräfte-Potenzials in Aussicht gestellt. Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann aber hinterlässt bei diesem Thema den Eindruck, er müsse eine Strafaufgabe erledigen. Entsprechend wenig ist passiert, etwa bei den Bestrebungen, Frauen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern. Und viele haben nach wie vor Angst, im Alter aus dem Arbeitsmarkt gedrängt zu werden.
Die Schweizerinnen und Schweizer wissen, dass ihr Wohlstandsmodell von Zuwanderung abhängig ist. Aber wohl ist ihnen dabei nicht. Da führt zu einer schizophrenen Einstellung. Eine Umfrage des «SonntagsBlick» vom letzten September zeigt, dass eine Mehrheit die Bilateralen und die Personenfreizügigkeit befürwortet. Gleichzeitig würde eine relative Mehrheit die SVP-Initiative erneut annehmen. Eine weitere Befragung bestätigte zu Jahresbeginn diesen Befund.
In diesen Umfrageergebnissen steckt Zündstoff. Die Stimmung könnte jederzeit wieder kippen, eine Wiederholung des Debakels von 2014 ist absolut möglich. Die MEI-Abstimmung war ein Vorläufer von Brexit und Trump-Wahl – auch dort ging es nicht zuletzt um Migration. Es ist eine Tatsache, die viele Multikulti-Romantiker gerne verdrängen: Eine angestammte Bevölkerung ist – auch mental – nur bis zu einem gewissen Grad zur Aufnahme neuer Menschen bereit.
Wenn wir beim Thema Zuwanderung weiterhin um den heissen Brei herum reden und uns einer substanziellen Debatte verweigern, wird sich das irgendwann rächen. Vielleicht schon am Sonntag, bei der Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform III. Viele Befürworter hoffen, dass sie zur Ansiedlung neuer Firmen führen wird. Sie sagen es nur nicht so laut wie früher.