In der Schweiz herrscht Wohnungsknappheit-
Jacqueline Badran: Falsch!
Was?
Sie müssen mir eines versprechen, wenn Sie mit mir ein Interview führen wollen: Sagen Sie dieses unsägliche Wort bitte nie wieder! (lacht)
Wohnungsknappheit? Was ist falsch an diesem Begriff?
Alles! Alles ist falsch an diesem Begriff. Er suggeriert, dass wir in der Schweiz nur zu wenige Wohnungen haben. Ergo muss die Baubranche einfach mehr bauen und das Problem ist gelöst. Ich habe nichts gegen mehr bauen. Aber das Problem ist damit definitiv noch nicht gelöst.
Wenn keine Wohnungsknappheit herrscht, in was für einer Situation befindet sich die Schweiz denn dann? Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass die Menschen immer mehr Mühe haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Eigentum können sich auch immer weniger Leute leisten.
Ja, das ist aber seit vielen Jahren so. Das zeigt, wir haben keinen Akutpatienten – wie das Wort Wohnungsknappheit insinuiert – sondern einen chronisch Kranken. Wir befinden uns in einer Systemkrise! In einer Rendite-Krise!
Die Leerstandsquote in der Schweiz zeigt–
Die Leerstandsquote! Genau diese zeigt doch, dass sie nichts mit der Höhe der Mieten zu tun hat. Zwischen 2008 und 2020 wurde wie wild gebaut, die Leerstandquote hat sich in der Zeit verdoppelt auf den zweithöchsten Stand aller Zeiten. Sind die Mieten gesunken? Nein! Sie sind massiv gestiegen, obwohl sie allein wegen der tiefen Zinsen hätten sinken sollen. Die Leerstandsquote hat darum schon immer nur eines gezeigt: Da wo es viele Arbeitsplätze gibt, da gibt es eine Übernachfrage nach Wohnraum, also vor allem in den Städten. Zürich hatte schon immer eine Leerstandquote unter eins. Was sagt uns das?
Es sagt uns… Moment, führen Sie jetzt das Interview oder ich?
(lacht) Ja ja, Sie führen es schon noch mit mir. Entschuldigen Sie, ich beschäftige mich jetzt schon so viele Jahre mit Wohnpolitik. Ich kann all diese Behauptungen der Immobilienlobby nicht mehr hören.
Welche zum Beispiel?
Eben dieses unsägliche Propagandawort der Bürgerlichen: «Wohnungsknappheit». Oder dass die Baubranche ständig lamentiert, die staatlichen Vorgaben seien zu hoch, das Mietrecht zu einschneidend. Nur darum würde sie immer weniger bauen. Seit ich mich erinnern kann, sagt der Hauseigentümerverband das. Dabei stimmt es gar nicht.
Es ist jedoch ein Fakt, dass die Bautätigkeit in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist.
Ja, und seit wann genau? Erst seit 2020. Und was war 2020?
Die Corona-Pandemie. Jetzt interviewen Sie mich wieder!
Ich will auf die Zinswende hinaus. Passen Sie auf: Ich gebe Ihnen jetzt eine Gratis-Vorlesung zu Wohnpolitik. Also: Die Immobilienbranche handelt unseren Boden und Wohnraum als Anlageklasse – wie Aktien oder Obligationen. Und diese sind zinsabhängig.
Okay, ich gebe auf. Halten Sie Ihre Vorlesung.
Weil 2020 die Zinsen gestiegen sind, lohnen sich andere Anlageklassen wieder viel mehr. Also wird weniger in Boden investiert. Wobei, investieren ist das falsche Wort. Es würde suggerieren, dass man selbst noch irgendeinen Wert generiert. Das tun die, die bestehende Immobilien kaufen, aber nicht.
Sie legen ihr Geld an.
Genau. Anleger – oft aus dem Ausland – parkieren ihr Geld auf unserem Grund und Boden und wetten darauf, dass die Buchwerte steigen. Seit 2020 – also der Zinswende – sind die Kapitalkosten gestiegen, was die Anlagen weniger rentabel machen. Darum stockt die Bautätigkeit. Es hat also absolut nichts mit den staatlichen Vorgaben zu tun. Die Baugesetze der bürgerlich regierten Kantone haben sich nämlich in keiner Weise verändert.
Gleichzeitig ist ebenfalls erwiesen, dass Einsprachen zugenommen und sich die Bewilligungsverfahren verlangsamt haben.
Ja, logisch erheben mehr Leute Einsprache, wenn verdichteter gebaut werden soll. Weil vom Bauprojekt mehr Menschen betroffen sind. Und zu den Bewilligungsverfahren: Die Bewilligungsämter sind massiv unterbesetzt. Wie gesagt, bis 2020 wurde gebaut wie wild. Da müsste man eben mal aufstocken. Aber klar spricht die Immobilienbranche lieber von einer «Wohnungsknappheit» und von «querulantischen Einsprachen», die ihre Bautätigkeit behindern. Weil sie mehr und einfacher bauen wollen, um schneller Erträge erwirtschaften zu können. Je länger der Bewilligungs- und Bauprozess geht, desto länger ist ihr Geld an einen Ort gebunden. Die Logik mit «die Nachfrage bestimmt den Preis» funktioniert vielleicht bei Turnschuhen, aber doch nicht bei unserem Boden – einem endlichen Gut. Und schon gar nicht bei Wohnraum. Sind die Turnschuhe zu teuer, kaufe ich sie eben nicht. Bei Wohnraum geht das nicht. Ich kann nicht nicht wohnen.
Wollten Sie darauf vorhin hinaus, als Sie sagten, in Städten gab es schon immer ein Unterangebot?
Genau. Wir befinden uns in einem archetypischen Preissetzermarkt. Die Immobilienbranche kann immer so hohe Mietzinsen verlangen, wie die Zahlungsfähigkeit der Leute ist. Ausser der Gesetzgeber sagt: «Nein, das darf man nicht.» Das ist in der Schweiz der Fall: Die Mieten haben sich gemäss unseres Gesetzes entlang der realen Kosten zu bewegen und sind an den Hypothekarzins gebunden. Die Vermietenden dürfen nur eine gesetzlich beschränkte Rendite machen, von zwei Prozent über dem Referenzzinssatz. Nur, das wird nicht eingehalten. Da draussen haben wir einen gesetzeswidrigen Zustand. Das ist es, was ich mit Systemkrise meine.
Sie sprechen es gerade an. Das Büro BASS hat im Auftrag Ihres Mieterverbands 2021 eine Studie zur Entwicklung der Renditen auf dem Mietwohnungsmarkt durchgeführt und für watson in diesem Jahr aktualisiert. Diese zeigte, dass Mieterinnen und Mieter 2023 im Schnitt 34 Prozent zu viel Miete bezahlt haben. Anders gesagt: Die Immobilienbranche hat 10,6 Milliarden Franken mit Mietzinsen eingenommen, die per Gesetz gar nicht so hoch sein dürften.
Ja, das ist doch ein volkswirtschaftlicher Super-GAU! Darum müssen flächendeckende Kontrollen der Renditen her. Es kann doch nicht sein, dass ich als Mieterin selbst dafür verantwortlich bin, dass ich zu meinem Bundesrecht komme.
Nun droht auch noch eine Gesetzesänderung im Parlament durchzukommen, die vorsieht, dass Mieter zu hohe Mietzinsen nur noch dann anfechten dürfen, wenn sie belegen können, dass sie sich in einer «persönlichen oder familiären Notlage» befinden, durch die sie zum Vertragsabschluss gezwungen waren. Und auch eine zweite Vorlage sieht vor, den Mietenden das Anfechten zu hoher Mietzinse zu erschweren. Ihr Mieterverband hat letzte Woche mitgeteilt, dass er gegen diese Gesetzesänderungen das Referendum lancieren werde, falls das Parlament diese annimmt. Braucht es diese Drohung?
Ja! Die beiden Vorlagen bedeuten, dass man sich fast gar nicht mehr gegen übersetzte Renditen wehren kann. Das ist, wie wenn man Geschwindigkeitskontrollen im Verkehr verbieten würde. Aber dieser Angriff auf das Portemonnaie der Mieterinnen und Mieter ist ja nur die Spitze des Eisbergs! Mitte-Rechts hat aus einer einzigen Gesetzesrevision des Mietrechts auf Druck der Immobilienlobby vier einzelne Vorlagen gebastelt. Zuerst zwei Vorlagen, die es Eigentümern erleichtert, ihren Mietenden zu kündigen. Und jetzt auch noch diese zwei weiteren Vorlagen. Diese Salamitaktik zwingt uns, gleich viermal ein Referendum zu lancieren.
Warum war es überhaupt möglich, dass das Parlament diese Gesetzesrevisionen so zerstückelt?
Das frage ich mich auch. In all meinen Jahren als Politikerin habe ich so eine Schweinerei noch nie erlebt. Es ist eine rechtsstaatliche und demokratiepolitische Unverschämtheit und, soviel ich weiss, eine Premiere.
Letzte Woche zeigte eine watson-Recherche, wie die Immobilien- und Baulobby Bundesrat Guy Parmelins «Aktionsplan Wohnungsknappheit» praktisch alle Zähne ziehen konnte. Ziel dieses Plans war es ursprünglich, verpflichtende Massnahmen zu beschliessen, die für mehr günstigen Wohnraum sorgen. Verpflichtungen findet man im Aktionsplan nun aber nicht mehr. Überrascht Sie das Ergebnis dieser Recherche?
Ganz und gar nicht. Sie zeigt mir nur, was ich seit Jahren beobachte: Dass das Parlament und der Bundesrat von der Immobilienbranche gelenkt werden. Nur noch die Stimmbevölkerung kann diesen Missstand korrigieren.
Überhaupt nichts macht Bundesrat Guy Parmelin, dem das Wohndossier unterliegt, aber auch nicht. Zumindest präsentierte der Bundesrat letzte Woche vier «gezielte Massnahmen zur Mietzinsdämpfung», wie er es nannte. Was halten Sie von diesen?
Also zuerst einmal muss ich festhalten: Wir vom Mieterverband befürworten alle vier Punkte und haben sie auch schon seit Jahren gefordert.
Aber?
Das sind keine Massnahmen! Das sind Selbstverständlichkeiten. Sie präzisieren und passen bestehendes Recht nur an.
Geht die Vorlesung jetzt weiter?
Ja. Punkt eins: «Die pauschale Weitergabe der allgemeinen Kostensteigerungen soll nicht mehr zulässig sein.» Das war bisher ohnehin nicht zulässig! Das hat das Bundesgericht bereits in einem Urteil festgehalten. Der Bundesrat setzt also nur geltendes Recht um. Punkt zwei: «Der Satz für den Teuerungsausgleich auf dem Eigenkapital soll von bisher 40 Prozent auf 28 Prozent reduziert werden.» Die 40 Prozent basieren auf einem 30 Jahre alten Rechenfehler, den wir vom Mieterverband schon seit Jahren kritisieren. Übrigens ein Dreisätzli-Rechenfehler. Also auch dieser Punkt ist nur die Durchsetzung dessen, was unser Gesetz ohnehin schon vorschreibt.
Haben die anderen beiden Punkte aus Ihrer Sicht wenigstens ein bisschen mehr Hand und Fuss?
Nicht wirklich. Das eine ist eine Rechtsbelehrung, dass man bei Mietpreisanstieg die Rendite auch auf Missbräuchlichkeit überprüfen kann. Das andere bedeutet, dass die Eigentümer künftig angeben müssen, auf welchem Referenzzinssatz und auf welcher Teuerung ihr angegebener Vormietzins beruht. Das betrifft sowieso nur jene Leute, die in Kantonen wohnen, in denen der Vormietzins angegeben werden muss. Auch das hätte längst eine Selbstverständlichkeit sein sollen. Woher sollte ich sonst wissen, ob der Vormietzins mit meiner jetzigen Miete vergleichbar ist?
Zusammengefasst?
Ich begrüsse all diese Punkte, aber sie sind nichts Neues. Die Mieten werden dadurch kaum merklich sinken. Wenn man Glück hat, um zehn Franken. Wenn das alles ist, was für die Mieterinnen und Mieter in diesem Land getan wird, muss ist sagen: Die Wohnpolitik des Bundesrats ist eine riesige Enttäuschung.