Das Wahljahr 2019 hat begonnen. Die SP lud am Dienstag zum Kaffee mit Parteichef Christian Levrat. Die SVP lässt am Samstag ihr Parteiprogramm für die nächsten vier Jahre von den Delegierten absegnen. Am gleichen Tag versammelt sich die CVP, und am nächsten Freitag wird FDP-Präsidentin Petra Gössi in Aarau den Startschuss zum Wahlkampf geben.
In neun Monaten werden National- und Ständerat neu gewählt. Die grossen Umschichtungen durch den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der SVP und Neugründungen wie GLP und BDP (beide hatten sich mehr oder weniger freiwillig von ihren früheren «Mutterparteien» abgespalten) sind vorerst vorbei. Die prozentualen Verschiebungen dürften sich in Grenzen halten.
Dennoch sorgen die Wahlen am 20. Oktober für Spannung. Können SVP und FDP ihre dünne Mehrheit im Nationalrat halten? Wie ist der Ständerat, der in der laufenden Legislatur häufig als Taktgeber agierte, künftig zusammengesetzt? In der kleinen Kammer zeichnen sich ungewöhnlich viele Abgänge ab. Zeit für einen Formcheck der Parteien (in Klammern der Wähleranteil 2015).
Die Flüchtlingskrise katapultierte die Volkspartei 2015 auf einen neuen Höchstwert. Der Erfolg aber erwies sich als Pyrrhussieg. Die Mehrheit mit der FDP im Nationalrat funktionierte nur selten. Alle für ihr Selbstverständnis wichtigen Volksabstimmungen hat die SVP verloren. In den Kantonen ist die Bilanz durchzogen. Hinzu kommen gewichtige Abgänge: Toni Brunner trat zurück, Adrian Amstutz folgt im Herbst, Natalie Rickli dürfte in die Zürcher Kantonsregierung gewählt werden.
Ausserdem herrscht bei den Kernthemen der SVP Flaute: Die Zuwanderung aus der EU und die Zahl der Asylgesuche sind rückläufig. Europa hat die Fluchtrouten weitgehend dicht gemacht. In Sachen EU verfügt die SVP nicht mehr über das Nein-Monopol. Wie heikel ihre Lage ist, zeigen die fast schon verzweifelten Versuche, das Thema Zuwanderung weiter zu bewirtschaften.
Die Vorzeichen im Hinblick auf den Herbst sind nicht günstig. Hoffnungen auf starke Verluste oder gar einen Niedergang der SVP aber sind verfrüht. Die Partei verfügt nach wie vor über eine treue und entschlossene Anhängerschaft, die gerne bereit ist, die für sie nachteiligen Aspekte der SVP-Politik auszublenden, etwa den rabiaten Neoliberalismus und die Angriffe auf den Sozialstaat.
Die Sozialdemokraten haben vom Rechtsrutsch vor vier Jahren profitiert, sie konnten in vielen Kantonen und Gemeinden zulegen. Im Parlament sieht ihre Bilanz weniger gut aus. Erklärtes Ziel der SP ist die Beendigung der rechtsbürgerlichen Mehrheit im Nationalrat. Im Ständerat wird sie Mühe haben, ihr Rekordergebnis von 2015 mit zwölf Sitzen zu halten.
Personell und inhaltlich ist die SP gut aufgestellt. Das grosse Fragezeichen ist die Europapolitik. Der auf Druck der Gewerkschaften eingeschlagene Kollisionskurs mit der EU könnte die proeuropäischen Mittelständler in ihrer Wählerschaft vor den Kopf stossen. Während die Profiteure der flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping häufig gar nicht wahlberechtigt sind.
Die SP bemüht sich deshalb, den Ball in Sachen Europa flach zu halten. Beim Wahlkampfauftakt am Dienstag in Bern sprachen ihre Vertreter über Krankenkassenprämien, Arbeit und Bildung für alle, Gleichstellung und Klimaschutz. Das Rahmenabkommen wurde ausgeklammert. Diese Strategie könnte ins Auge gehen, wenn es zur Eskalation mit Brüssel kommt.
Die Freisinnigen blicken auf erfreuliche Jahre zurück. Bei den letzten Wahlen legten sie erstmals seit Jahren wieder zu, und der Aufwärtstrend hat sich seither fortgesetzt. Präsidentin Petra Gössi, die als Verlegenheitslösung galt, hat sich als Glücksfall entpuppt. Die glanzvolle Wahl von Karin Keller-Sutter in den Bundesrat war der Höhepunkt der Erfolgswelle.
Nun aber ziehen Wolken am FDP-blauen Himmel auf. Der gefallene Hoffnungsträger Pierre Maudet wird für die Partei zunehmend zur Hypothek. Die bislang stilsichere Petra Gössi leistete sich dabei einen Fauxpas mit saloppen Bemerkungen über Westschweizer und Tessiner. Beim Rahmenabkommen eiert die FDP herum, statt «ihrem» Aussenminister Ignazio Cassis den Rücken zu stärken.
Konkurrenten aus der bürgerlichen Mitte hoffen auch, vom zwiespältigen Verhalten der FDP bei der Behandlung des CO2-Gesetzes im Nationalrat profitieren zu können. Gleichzeitig könnte ihr die Schwäche der SVP helfen. Auch im Ständerat liegt der eine oder andere Sitzgewinn drin. Das erklärte Ziel, die SP zu überholen, dürfte jedoch ausser Reichweite sein.
Die CVP kann machen was sie will, sie kommt auf keinen grünen Zweig. Sie agiert geschlossen wie nie (selbst Parteipräsident Gerhard Pfister hat sich vom rechten Rand in die Mitte bewegt) und gewinnt mehr Abstimmungen als die anderen Parteien. Trotzdem droht ihr der Fall unter die psychologisch wichtige Zehn-Prozent-Marke. Gründe für die Misere gibt es einige.
So wirkt der C-Brand in einer zunehmend säkularen Gesellschaft auf viele potenzielle Wähler abschreckend. Nun ergreift Gerhard Pfister die Flucht nach vorne. Er will die CVP im Wahlkampf als «einzige staatstragende Partei» positionieren. Damit bezieht er sich auf die von Claude Longchamp im watson-Interview festgestellte Entfremdung zwischen FDP und CVP.
Es könnte funktionieren, wenn genügend Wähler zur Einsicht gelangen, dass die zunehmende Polarisierung und die Orientierung der Parteien am «Wählermarkt» das Konkordanzsystem in Schieflage bringen. Doch selbst wenn es prozentual weiter bergab geht, ist die CVP (noch) nicht verloren: Sie wird im Ständerat und damit in der Bundespolitik ein Machtfaktor bleiben.
Präsidentin Regula Rytz spricht mit Blick auf den 20. Oktober schon seit Monaten von einer «Klimawahl». Es ist ein bekanntes Phänomen, dass die Grünen zulegen, wenn ein ökologischer Leidensdruck vorhanden ist, wobei sich die Grünen seit 2015 ohnehin im Aufwärtstrend befinden.
Zum Rahmenabkommen äussern sich die Grünen kritisch, ohne sich in gleicher Weise zu exponieren wie SP und Gewerkschaften. Sie sind in dieser Hinsicht gebrannte Kinder. 1992 lehnten sie den EWR-Beitritt ab, ihre Basis aber stimmte mehrheitlich dafür. Die Vorzeichen sind deshalb günstig, dass die Grünen auch ohne neuen «Extremsommer» im Herbst zulegen werden.
Die Grünliberalen haben in ihrer noch jungen Geschichte einige Turbulenzen erlebt. Bei den Wahlen 2015 wurde ihre Fraktion auf sieben Sitze halbiert. Dieses Jahr dürfte die Achterbahnfahrt in die andere Richtung gehen. Ihre Kernthemen Klimawandel und Europa werden im Herbst eine zentrale Rolle spielen. Der GLP könnte dies Stimmen von links und rechts einbringen.
Die strukturellen Schwächen sind damit nicht behoben. Für eine relativ junge Partei sehen die Grünliberalen verblüffend alt aus. Trotz des «coolen» Brands tun sie sich schwer damit, neue und spannende Köpfe aufzubauen. Selbst politisch interessierte Zeitgenossen dürften Mühe haben, den Namen des Parteipräsidenten (der Berner Nationalrat Jürg Grossen) zu nennen.
Die Abgesänge auf die BDP lassen sich kaum zählen. Nach dem Rücktritt von Aushängeschild Eveline Widmer-Schlumpf schienen ihre Tage gezählt. In letzter Zeit aber gibt es Grund zur Hoffnung. Präsident Martin Landolt will die Partei als progressiv-bürgerliche Kraft positionieren. Das gelingt ihm immer besser, wie das jährliche Parlamentarier-Rating der NZZ zeigt.
Befand sich die Partei bei ihrer Gründung 2008 rechts von der FDP, so hat sie zuletzt sogar die CVP links überholt. Bei Themen wie Waffenexporte und Europapolitik führt die BDP diese Linie weiter. Fragt sich nur, ob sie damit neue Wähler gewinnt, und ob die bisherige Basis mitzieht. In Bern etwa ist sie deutlich konservativer als in den anderen «Stammlanden» Glarus und Graubünden.
Mehrere Kleinparteien sind ebenfalls im Parlament vertreten: EVP und Lega dei Ticinesi mit zwei Sitzen, PdA, CSP Obwalden und Mouvement Citoyen Genevois mit einem Abgeordneten. Sie müssen froh sein, wenn sie ihren Besitzstand halten. Sitzgewinne liegen für die Linksaussen-Parteien drin, und die Lega könnte im Tessin einen Ständeratssitz erobern. Hoffnungen auf eine Rückkehr nach Bern kann sich die evangelikale EDU machen.