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Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels war eine Wohltat für das nationale Ego. Die freundlichen bis begeisterten Voten der Staatsgäste aus den Nachbarländern wirkten wie Balsam für ein Land, das sich vom Rest der Welt oft missverstanden fühlt. Einzig François Hollandes Verweis auf die Personenfreizügigkeit sorgte für Missfallen bei der SVP. In erster Linie dominierte die Hoffnung, Europa möge der Schweiz für das Jahrhundertbauwerk etwas zurückgeben.
Konkret soll die Europäische Union (EU) der Schweiz bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative und damit bei der Personenfreizügigkeit entgegenkommen. Der Bundesrat dürfte dieses Thema bei seinen Gesprächen mit den Besuchern angesprochen haben. Ob mehr dabei resultierte als schöne Worte, ist nicht bekannt. Bis zur Abstimmung in Grossbritannien über einen Austritt aus der EU am 23. Juni herrscht ohnehin Funkstille.
Aus helvetischer Sicht jedoch drängt die Zeit. Die dreijährige Übergangsfrist zur MEI-Umsetzung endet am 9. Februar 2017. Der Bundesrat hat seine Vorstellungen im März auf den Tisch gelegt: Sollte es keine Einigung mit der EU geben, will er den Verfassungsartikel 121a notfalls mit einer einseitigen Schutzklausel anstelle der darin enthaltenen Kontingente umsetzen.
Faktisch muss die Schweiz zwei Röhren befahren, um im «Gotthard-Jargon» zu verbleiben: Auf der einen Seite strebt sie einen Deal mit Brüssel an, der inhaltlich nach wie vor diffus ist. Trotzdem soll Chefunterhändler Jacques de Watteville an einer Europa-Klausur des Bundesrats einen sehr ambitionierten Zeitplan vorgelegt haben: Nach der Brexit-Abstimmung in Grossbritannien strebe er eine Lösung mit der EU in nur gerade 13 Tagen an, schrieb der «Tages-Anzeiger».
Nach mehr als zwei Jahren Stillstand soll im Schnellzugstempo eine Vereinbarung erzielt werden. An einer Veranstaltung in Bern räumte de Watteville ein, der Zeitrahmen sei «sehr eng», ein Abschluss mit der EU noch im Sommer eine «enorme Herausforderung». Bundespräsident Johann Schneider-Ammann sprach in einem Interview mit der NZZ von einem «Wettlauf mit der Zeit». Eine detaillierte Vereinbarung werde man im Sommer «wahrscheinlich nicht erreichen», räumte er ein.
Die
zweite Schiene betrifft die Innenpolitik und damit den Druck, der von
der Frist bis zum 9. Februar 2017 ausgeht. Punktgenau lässt sich
eine Umsetzung bis zu diesem Zeitpunkt kaum realisieren. Der aktuelle
Zeitplan sieht vor, dass der Nationalrat in der Herbstsession das
Geschäft berät. Der Ständerat folgt im Winter. Im Optimalfall kann
bis Ende Jahr eine Übereinkunft erzielt werden. Bestehen jedoch
Differenzen, könnten sich die Beratungen in die Frühjahrssession
2017 hinein ziehen. Und danach droht ein mögliches Referendum samt
Abstimmung.
Wie die «einheimische» Lösung inhaltlich aussieht, bleibt ebenso offen wie die mögliche Einigung mit der EU. Die Begeisterung über die einseitige Schutzklausel des Bundesrats hält sich in Grenzen. Als Alternative steht ein begrenzter Inländervorrang zur Diskussion. Die Wirtschaftsverbände streben einen «Schulterschluss» der drei grossen bürgerlichen Parteien an. Sie wollen damit die SVP als Urheberin der Masseneinwanderungs-Initiative ins Boot holen.
Sie war in der Vergangenheit bei den bilateralen Verträgen regelmässig auf Oppositionskurs gegangen, weshalb FDP und CVP sich mit der SP einigen mussten. Diese erkaufte sich ihre Zustimmung mit immer neuen flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping. Einen solchen Ablauf wollen die Wirtschaftsverbände im aktuellen Fall unbedingt vermeiden. «Wir wollen keinen Ausbau der flankierenden Massnahmen», bestätigt der neue CVP-Präsident Gerhard Pfister.
Über den Stand der bürgerlichen Gespräche kursieren divergierende Szenarien. Die «Schweiz am Sonntag» berichtete, ein Konsens zwischen den drei Parteien rücke «in greifbare Nähe». Sie beruft sich auf SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher, die sich in einem Interview für eine «wirtschaftsverträgliche» Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative aussprach und auch ein Bekenntnis zu den bilateralen Verträgen abgab.
Gleichentags vermittelte die «SonntagsZeitung» den Eindruck, die Gespräche seien so gut wie gescheitert. Ihr «Kronzeuge»: Martullos Vater Christoph Blocher. Er hielt in einem Interview nicht nur an den geforderten Kontingenten fest – für die Wirtschaft ein No-Go –, sondern sprach sich auch für neue sozialpolitische Massnahmen gegen die «Einwanderung ins Sozialsystem» aus. Damit schlage Blocher die Tür für einen Kompromiss zu, schrieb die «SonntagsZeitung».
Blocher gegen Blocher – genüssliche Kommentare über den innerfamiliären Streit blieben nicht aus. Die Parteien jedoch halten den Ball flach. «Man soll nicht alles glauben, was in der Zeitung steht», meint Gerhard Pfister augenzwinkernd. Auch der Verantwortliche für die Europapolitik in der SVP wiegelt ab. Zwischen Magdalena Martullo und Christoph Blocher gebe es «keinen Dissens», sagt Roger Köppel: «Wir haben den Verfassungsauftrag, die Zuwanderung zu begrenzen. Dafür brauchen wir Höchstzahlen und Kontingente, aber die sollen unbürokratisch ausgestaltet sein.»
Die SVP mache daraus jedoch keine dogmatische Frage, betont Köppel: «Falls jemand eine bessere Idee hat, verschliessen wir uns ihr nicht.» Die SVP wolle eine Lösung, eine Absprache mit FDP und CVP sei «sicher möglich», so der Zürcher Nationalrat und «Weltwoche»-Chef. Auch CVP-Präsident Pfister bleibt zuversichtlich, dass die drei Parteien eine Übereinkunft finden werden. In «greifbarer Nähe» ist eine solche nicht, aber gescheitert sind die Gespräche genauso wenig.
Letztlich aber bleiben trotz des Zeitdrucks viele Fragen offen. Was geschieht, wenn die Briten Ja sagen zum Brexit? «Dann herrscht in Brüssel Chaos», fürchtet der Zürcher SP-Nationalrat Tim Guldimann. Der frühere Spitzendiplomat geht nach wie vor von einem Verbleib aus, «aber es wird sehr knapp». Stimmen die Insulaner jedoch für einen Austritt, dann dürfte das Dossier Schweiz auf der Prioritätenliste in Brüssel weit nach hinten rücken, eine baldige Lösung wirkt illusorisch.
Das dürfte sich auf ein weiteres Dossier auswirken, die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien. Der Ständerat hat dem entsprechenden Protokoll am Donnerstag zugestimmt, verbunden mit der Bedingung, für eine definitive Ratifizierung brauche es eine Lösung in der Zuwanderungsfrage. Was aber, wenn eine solche nicht bis Ende Jahr vorliegt? Die Schweiz droht in einem solchen Fall den Zugang zum EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 zu verlieren.
Die
Schweiz muss angesichts des Zeitdrucks die Weichen stellen, doch
niemand weiss, wohin die Reise gehen wird. Fest steht nur, dass
hektische Monate bevorstehen. Im besten Fall einigen sich die Schweiz
und die EU auf einen Deal, der auch innenpolitisch akzeptiert wird.
Im schlechteren Fall endet die Gotthard-Euphorie auf dem
europapolitischen Abstellgleis.