Ausgerechnet die pro-europäisch eingestellte Schweizer Linke legt Gesprächen über eine Annäherung der Schweiz an die EU ein grosses Hindernis in den Weg. Dabei unterstützte die SP einen Annäherungskurs an die EU als einzige Bundesratspartei fast vorbehaltlos, fordert im noch immer aktuellen Parteiprogramm von 2010 sogar den EU-Beitritt der Schweiz.
Nur: Errungenschaften wie die flankierenden Massnahmen, welche Schweizer Arbeitnehmer vor den tiefen Löhnen in den EU-Ländern schützen, sind für die SP-nahen Gewerkschaften ein Tabu, über das nicht gesprochen, geschweige denn verhandelt werden darf. Weil der Bundesrat genau das aber tun wollte, sagten sie am Mittwoch Gespräche mit Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann ab.
Volle Unterstützung bekamen sie aus der SP-Zentrale in Bern. SP-Präsident Christian Levrat wies sämtliche Schuld an einem Scheitern eines Rahmenabkommens mit der EU den freisinnigen Bundesräten Schneider-Ammann und Ignazio Cassis zu. Dass sich die SP voll und ganz hinter die Absage der Gewerkschaften an Gespräche stellt, kommt aber nicht bei allen Parteimitgliedern gut an, wie Gespräche der «Nordwestschweiz» zeigen.
Zum Beispiel Ständerat Claude Janiak (BL): Er sagt: «Die Gesprächsverweigerung der Gewerkschaften schafft eine unmögliche Situation. Es ist offensichtlich so, dass Verhandlungsspielraum besteht, ohne dass die flankierenden Massnahmen infrage gestellt werden.»
Seine Partei gehe damit ungeschickt um: «Die SP lässt sich einmal mehr von Gewerkschaften und Juso treiben und läuft Gefahr, an denen vorbei zu politisieren, die sie wählen», sagt Janiak.
In der Bundeshausfraktion wird es darum noch kontroverse Diskussionen geben. «Dem neuen Positionsbezug ging keine Diskussion in der Fraktion voraus. Es passierte ja alles während des Sommers», sagt der Baselbieter Ständerat.
Auch die Aargauer Ständerätin Pascale Bruderer kritisiert den Kurs ihrer Partei: «Dass die SP sich voll und ganz hinter die Gewerkschaften gestellt hat, ist für mich nur schwer nachvollziehbar.» Schliesslich gehe sie davon aus, dass die SP nebst dem Lohnschutz auch weiterhin ihrem europapolitischen Weg hohe Priorität einräume – «also der Konsolidierung der bilateralen Beziehungen».
Etwas diplomatischer äussert sich Tim Guldimann. Der ehemalige Botschafter und SP-Nationalrat versteht nicht, weshalb die Gewerkschaften die Mittel zu Zielen machen. «Wenn man die Bewahrung der flankierenden Massnahmen in der heutigen Form zum Ziel erklärt, verwehrt man sich der Diskussion, ob man seine Ziele nicht auch mit anderen Mitteln erreichen könnte», sagt er.
Das Ziel liege ja schliesslich im strikten Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». «Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind mir aber wurst.»
Sein Parteikollege Eric Nussbaumer hingegen scheint von der SP bearbeitet worden zu sein. Noch im Juli zeigte er sich offen für Lösungen zur Reform der 8-Tage-Regel. Jetzt, nachdem wegen des Gewerkschafts-Neins solche Gedankenspiele vom Tisch sind, will der Baselbieter Nationalrat und Aussenpolitiker keine scharfe Kritik üben. «Ich an ihrer Stelle hätte die Gespräche nicht platzen lassen», sagt Nussbaumer nur.
Bruderer, Guldimann und Nussbaumer stellen geregelte Beziehungen der Schweiz zur EU über die gewerkschaftlichen Ultimaten. Dabei ist die Europäische Union nicht gerade das Lieblingskind der Linken. Deren Mühen reichen tief in die Fundamente der europäischen Integration. Diese baut auf der Grundidee, dass wirtschaftliche Zusammenarbeit Kriege auf dem Kontinent verhindert.
Das Konzept aus konservativer französischer Küche fand beim Christdemokraten Konrad Adenauer in Deutschland Unterstützung: Sechs westeuropäische Staaten stellten darauf ihre Stahl- und Kohlereserven unter eine gemeinsame Verwaltung. Ideengeber Jean Monnet, französischer Polit- und Wirtschaftsberater, träumte zwar bereits von den Vereinigten Staaten von Europa. Doch ging er dabei von der Idee der kleinen Schritte zur politischen Integration aus.
Dies sollte Europa über Jahrzehnte prägen: Sozialdemokraten mochten von einem politisch vereinigten Kontinent träumen. Doch die Europäische Gemeinschaft setzte stets wirtschaftliche Öffnungen vor die Schaffung gemeinsamer politischer Instanzen. Als sie 1992 zur Europäischen Union zusammenwuchs, wurde die politische Vision zwar wichtiger.
Doch wird die EU von linken Kräften in Europa nach wie vor als wirtschaftsliberales Konstrukt kritisiert. Selbst die Personenfreizügigkeit ist vor diesem Hintergrund in der Linken umstritten: Diese begrüsst zwar das Recht aller Europäer, sich auf dem Kontinent frei zu bewegen. Aber sie fürchtet die Konsequenzen, die sich aus der einfachen Verfügbarkeit billiger Arbeit ergeben.
Derzeit verteidigen Schweizer Sozialdemokraten die EU trotzdem als Bollwerk gegen rechten Populismus und nationalistische Tendenzen, jüngst etwa Fraktionschef Roger Nordmann.
Auf seinem Blog fordert er mildere Linksaussen-Kritik an der liberalen EU-Wirtschaftspolitik. «Obwohl sie konstruktiv und theoretisch meist fundiert ist, könnte diese Kritik von links den Spaltungsprozess in Europa weiter beschleunigen, weil sie die Attacken von rechts verstärkt», schrieb Nordmann Anfang dieser Woche – um wenige Tage später die Verhandlungen der Schweiz für eine engere Beziehung mit der EU zu torpedieren.
Auch die Gewerkschaften bewegen sich ideologisch auf einem schmalen Grat. In einer langen Phase des Réduit-Denkens hätten sie ihren einst internationalistischen Ansatz verloren, analysierte Unia-Chefin Vania Alleva Anfang Juli in einer Gewerkschafts-Publikation.
Erst mit der Personenfreizügigkeit und der Öffnung zur EU hätten sich die Gewerkschaften neu orientiert. «Die Bedeutung des gewerkschaftlichen Paradigmenwechsels hin zur Gleichberechtigung der Migrantinnen und Migranten und schliesslich zur Personenfreizügigkeit – wenigstens mit den EU-Ländern – kann darum gar nicht hoch genug geschätzt werden», schrieb Alleva.
«Wir kämpfen für eine Schweiz, die sich – als Land im Herzen Europas – als Teil dieser Welt versteht», versprach Alleva und warnte vor der Rückkehr des Nationalismus. Jetzt, einen Monat später, wirft sie dem Bundesrat Verrat vor, weil dieser beim Schweizer Lohnschutz Gesprächsbereitschaft mit der EU signalisiert hat.