Die Aufbruchstimmung währte nur kurz, sofern es sie je gab. Als Bundespräsidentin Viola Amherd am Montag in Brüssel gemeinsam mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Startschuss zu den neuen Verhandlungen über die bilateralen Beziehungen gab, waren die innenpolitischen Misstöne nicht zu überhören.
Die SVP, die grösste Regierungspartei, macht wie erwartet auf Totalopposition. Die Gewerkschaften stänkern weiter und senden immer wieder Drohgebärden in Richtung Bundesrat. Auch in den Medien haben sich die Stimmen, die schon das institutionelle Rahmenabkommen zum Abschuss freigaben, wieder zu Wort gemeldet.
Begibt sich der Bundesrat also auf eine Mission impossible? Einfach wird die Aufgabe nicht, besonders angesichts von der Leyens erklärter Zielvorgabe, die Verhandlungen bis Ende Jahr abzuschliessen. Viola Amherd äusserte sich wesentlich zurückhaltender. Eine wichtige Rolle spielen die beteiligten Personen. Dabei gibt es drei Hierarchiestufen.
Für die Schweiz steigt der 54-jährige Patric Franzen als Chefunterhändler in den Ring. Der Karrierediplomat leitet die Abteilung Europa im Aussendepartement EDA. Bislang waren die Verhandlungen mit der EU durch den Staatssekretär geführt worden, doch Alexandre Fasel ist in dieser Funktion erst seit letztem Herbst im Amt. Franzen hingegen kennt die Materie.
Der gebürtige Oberwalliser war in die Sondierungsgespräche involviert, die eigentliche Vorverhandlungen waren. Parlamentarier schildern ihn als dossierfest. Nun steht Patric Franzen unter verschärfter Beobachtung. Auf ihn warte «die schwierigstmögliche Mission für einen Schweizer Diplomaten, angeschnallt auf einem Schleudersitz», so CH Media.
Sein Gegenüber ist ein «alter Hase», wenn auch im übertragenen Sinne. Richard Szostak beschäftigt sich seit 2015 innerhalb der EU-Kommission in diversen Funktionen mit der Schweiz. Über ihn als Person ist wenig bekannt. Selbst sein Alter ist umstritten, er ist je nach Quelle 41- oder 45-jährig. Jungenhaft sieht er aus, doch der Eindruck täuscht.
Szostak ist polnisch-britischer Doppelbürger und gestählt durch die Brexit-Verhandlungen. Für die Schweiz ist das eine Warnung. Wie alle «Eurokraten» verteidigt er den Binnenmarkt gegen Ansprüche von Drittstaaten. «Jedes Zugeständnis gegenüber der Schweiz könnte auch den Briten neue Ideen geben und umgekehrt», schreibt der «Tagesanzeiger».
Falls es zwischen den Chefunterhändlern harzt, kommt die nächste Hierarchiestufe ins Spiel. Sie besteht aus Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) und Maroš Šefčovič, dem Vizepräsidenten der EU-Kommission. Sie haben sich schon mehrfach getroffen, zuletzt im Januar am WEF in Davos. Auf persönlicher Ebene sollen sie sich gut verstehen.
Šefčovič gilt als angenehm im Umgang, doch in der Sache ist der bullige Slowake knallhart. Das zeigt sich im NZZ-Interview, in dem er freundlich, aber bestimmt erklärt, dass die Schweiz nicht mit grossen Zugeständnissen rechnen darf. Über den Stand der Verhandlungen werde ein Treffen mit Cassis für den Juni «ins Auge gefasst», teilte der Bundesrat am Montag mit.
Auf höchster Ebene sind Ursula von der Leyen und die jeweilige Bundespräsidentin oder der Bundespräsident involviert. Sie geben den Startschuss und kommen ins Spiel, wenn es auf der Zielgeraden hart auf hart geht. Wobei auf Schweizer Seite der Gesamtbundesrat entscheidet. Auch das Parlament und die Kantone haben ein Mitspracherecht.
Bei der EU strebt Ursula von der Leyen eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Brüsseler Kommission an. Auch sie kann nicht allein entscheiden, sondern muss die Befindlichkeit der 27 Mitgliedsstaaten berücksichtigen. Sie werden es nicht akzeptieren, wenn ihre Unterhändler gegenüber einem Nichtmitglied wie der Schweiz zu nachgiebig auftreten.
Erschwerend kommt bei von der Leyen hinzu, dass sie als Norddeutsche anders als ihre Vorgänger José Manuel Barroso und Jean-Claude Juncker keine persönliche oder emotionale Beziehung zur Schweiz hat. Am Montag «schwänzte» sie den geplanten Lunch mit Viola Amherd. Die Bundespräsidentin musste sich mit Maroš Šefčovič «begnügen».
Am Dienstag haben die Unterhändler Patric Franzen und Richard Szostak ihre Gespräche aufgenommen. Sie sollen sich mindestens einmal pro Monat «kurzschliessen», vorwiegend virtuell. Dazwischen gibt es Verhandlungen auf technischer Ebene. Das Ziel eines Abschlusses bis Ende Jahr ist dennoch ambitiös, denn es mangelt nicht an Stolpersteinen.
In Brüssel ist das Misstrauen gross, seit der Bundesrat vor bald drei Jahren das aus EU-Sicht fertige Rahmenabkommen einseitig «gecancelt» hatte. Mit viel Nachsicht darf die Schweiz nicht rechnen. So wurde der Zugang zum Forschungsprogramm Horizon Europe laut dem «Tagesanzeiger» auf Druck der Mitgliedsstaaten bis Ende Jahr befristet.
Auf Schweizer Seite ist es deshalb zentral, mögliche Konzessionen an die EU innenpolitisch «abzufedern». Dabei sind pikanterweise die SVP-Bundesräte Guy Parmelin (Lohnschutz) und Albert Rösti (Bahnverkehr und Energie) gefordert. Zu einem Stromabkommen hat sich Rösti bislang ambivalent geäussert, obwohl die Branche ein solches seit Jahren fordert.
Die EU-Spitzenbeamten wollen nicht realisieren, dass sie die CH Bevölkerung überzeugen müssen und nicht 101 Politiker im Nationalrat. Auch Aussagen, wie die Schweiz steht auf der Speisekarte fördern die Beziehung nicht (M. Matthiessen, 2019).
Die EU will nur unser Bestes und wir bluten langsam aus …