Die Mörder kannten keine Gnade und sie hatten alle Zeit der Welt, um ihre wehrlosen Opfer mit Kalaschnikows und Metzgermessern abzuschlachten. Opfer, die der Terror unvermittelt und zufällig traf. 62 Menschen starben am Vormittag des 17. Novembers 1997 im Tempel der Hatschepsut im ägyptischen Luxor, fast alle von ihnen Touristen, darunter 36 Schweizer.
Nichts hatte an diesem Montagmorgen darauf hingedeutet, dass der beliebte Touristenort zum Schauplatz eines Massakers werden würde. Wie üblich waren klimatisierte Busse voller Touristen vor der majestätischen Tempelanlage von Deir-el-Bahari vorgefahren, die die Pharaonin zwischen 1503 und 1482 v. Chr. hatte errichten lassen. Um neun Uhr, kurz vor dem Anschlag, drängten sich bereits verschiedene Reisegruppen auf der zweiten Terrasse des Tempels, darunter zwei der schweizerischen Reiseunternehmen Kuoni und Imholz.
Als die ersten Schüsse knallten, unten, im Eingangsbereich, dachte oben kaum jemand an einen Anschlag – die Reisebegleiter beruhigten die Touristen und setzten die Führung fort. Doch unten rannten bereits Menschen in Panik um ihr Leben. Die Schüsse waren echt; vier junge Männer – sie trugen Uniformen der ägyptischen Sicherheitspolizei – hatten soeben die drei nur mit Pistolen bewaffneten Polizisten erschossen, die den Terrassentempel bewachten. Zwei weitere bewaffnete Männer, die bereits auf dem Gelände gewartet hatten, schlossen sich ihnen an.
Nun stürmten die Terroristen in zwei Gruppen über die Rampe zur zweiten Terrasse hinauf und begannen sofort auf die Touristen dort zu schiessen. Die Menschen wurden in die Enge getrieben – der Tempel entpuppte sich als tödliche Falle; es gab kein Entkommen und kaum Möglichkeiten, sich zu verstecken. Verzweifelte Menschen suchten hinter Säulen Schutz, doch die Mörder schauten überall nach.
Chancen zu überleben hatte nur, wer sich tot stellte oder sich unter bereits Verletzten oder Getöteten verbergen konnte. Eine einzige Schweizer Reisegruppe entkam dem Gemetzel, weil sie sich in einer Nebenkapelle befand und von den Tätern nicht gesehen wurde. Diese verrichteten ihr grausames Werk, wie mehrere Überlebenden übereinstimmend berichteten, mit grosser Ruhe.
Tatsächlich hatten die Terroristen Zeit. Wie lange, konnte danach niemand genau sagen: 20 Minuten, nach anderen Berichten sogar 45 Minuten lang dauerte das Massaker – eine quälende Ewigkeit, wie Überlebende sich erinnerten. Und niemand kam den Opfern zu Hilfe; keine Polizisten, keine Soldaten. Die Täter hatten sich in Zweiergruppen aufgeteilt; der eine schoss, während der andere das Magazin wechselte.
Niemand wurde verschont, die Mörder exekutierten unterschiedslos Männer, Frauen und Kinder. Ein Zeuge sah, wie sie ein kleines Mädchen erschossen, obwohl es um sein Leben flehte. Und sie verstümmelten einige ihrer Opfer, besonders die Frauen, mit Messern. Ihr Bekennerschreiben legten sie einem toten japanischen Touristen in den aufgeschlitzten Bauch.
Dann zogen die Terroristen ab. Vermutlich hatten sie gar nicht damit gerechnet, dass sie im Tempel so lange würden ungestört morden können, sondern hatten erwartet, dass alarmierte Sicherheitskräfte sie töten würden. Nun kaperten sie auf dem Parkplatz ein Taxi und kurz danach einen wartenden Touristenbus, dessen Fahrer sie zwangen, sie in Richtung des Tals der Königinnen – einem anderen Touristenort – zu fahren.
Dort hätten die Mörder wohl weitere Opfer gefunden, doch sie kamen nie dort an. Sie wurden von einer Polizeisperre aufgehalten und setzten ihre Flucht in die Berge zu Fuss fort. Einen von ihnen verletzte eine Polizeikugel, sie erschossen ihn kurzerhand. Die anderen fünf verschanzten sich in einer Höhle und begingen dort kollektiv Selbstmord – zumindest laut der Version der ägyptischen Behörden.
Unterdessen hatte die Nachricht vom Terroranschlag auch die Behörden in der Schweiz erreicht, zunächst ohne dass diese das wahre Ausmass der Katastrophe erkennen konnten. Das EDA richtete einen Sonderstab ein; mehrere Mitarbeiter flogen umgehend nach Ägypten. Dort waren die Verletzten unterdessen nach Kairo gebracht worden; mehrere Leichen lagen aber noch im Keller eines Spitals in Luxor. Die Ägypter hatten die teilweise schwer entstellten Toten entkleidet und ihre Effekten auf einen Haufen geworfen – was die Identifizierung erschwerte.
Am nächsten Tag, einem Dienstag, reiste Aussenminister Flavio Cotti nach Kairo und besuchte die Überlebenden im Krankenhaus. Tags darauf wurden die Verletzten mit einem Airbus der Air France in die Schweiz geflogen. Auch die Toten wurden mit einem Sonderflug in die Schweiz gebracht, wo Angehörige, Vertreter der Behörden und Bundesrat Moritz Leuenberger sie erwarteten. Die 36 Särge wurden in einem Hangar aufgebahrt, Leuenberger hielt eine kurze Ansprache.
Die Anteilnahme in der Schweiz war gross. Im Kondolenzbuch, das im Bundeshaus auflag, trugen sich Hunderte ein. Am 29. November fand ein ökumenischer Gedenkgottesdienst im Zürcher Grossmünster statt, an dem mehrere hundert Menschen teilnahmen, darunter auch der ägyptische Aussenminister Amr Mussa.
Auch die Medien verarbeiteten das schreckliche Geschehen – freilich nicht immer mit geeigneten Mitteln. Berühmt wurde jenes Foto, dem der «Blick» etwas «nachhalf»: Eine Wasserlache auf dem Vorplatz des Tempels wurde rot eingefärbt, so dass sie wie Blut wirkte. Die Boulevard-Zeitung musste sich für diesen Missgriff entschuldigen.
Der islamistische Hintergrund des Anschlags erwies sich nicht nur durch das Bekennerschreiben der Täter, in dem sie sich als Mitglieder der fundamentalistischen Untergrundbewegung «Gamaa Islamija» («Islamische Vereinigung») bezeichneten. Obwohl der Anschlag sich zuallererst gegen die Regierung Mubarak richtete, da ein Einbruch des Tourismusgeschäfts die ägyptische Wirtschaft aufs Empfindlichste treffen musste, waren die Touristen den Islamisten verhasst. «Tourismus ist verabscheuungswürdig, ein Trick jüdischer Frauen, Prostitution und Aids zu verbreiten», sagte der Gamaa-Chef Talaat Fuad Kasim.
Erst wenige Wochen zuvor, am 18. September, hatten zwei erklärte Sympathisanten des islamischen Fundamentalismus vor dem Ägyptischen Museum in Kairo neun deutsche Touristen und einen ägyptischen Busfahrer getötet. Das deutsche Auswärtige Amt hatte deshalb auf das Sicherheitsrisiko hingewiesen und vor Reisen nach Mittelägypten gewarnt.
Die Gamaa Islamija – ihr «spiritueller Führer» ist der blinde Geistliche Umar Abd ar-Rahman, der wegen Terroranschlägen in den USA eine lebenslange Haftstrafe absitzt – wurde in den Siebzigerjahren gegründet und hat politisches Gedankengut der Muslimbruderschaft übernommen. Sie verfolgte das Ziel, die Regierung in Kairo zu stürzen. An deren Stelle sollte ein Scharia-konformes, islamisches Regime treten.
Ab 1992 führte die Gamaa Islamija einen Aufstand gegen die ägyptische Regierung, der hunderte Menschenleben kostete und zu einer Verhaftungswelle führte, der die Organisation deutlich schwächte. Moderate Kräfte erklärten darauf einen Gewaltverzicht – was wiederum Aiman az-Zawahiri auf den Plan rief. Der aus Ägypten stammende Chirurg und Terrorist hielt sich seit Mitte der Achtzigerjahre in Afghanistan auf; heute gilt er als Kopf der al-Kaida und Nachfolger von Osama bin-Laden.
Um den Ausgleich der Gamaa Islamija mit Kairo zu torpedieren, plante az-Zawahiri mit radikalen Mitgliedern der Organisation einen vernichtenden Anschlag. Sein Kalkül ging allerdings nicht auf – die Grausamkeit des Massakers empörte zahlreiche Ägypter. Zudem trafen seine wirtschaftlichen Folgen all jene, deren Wohlergehen von der Tourismusindustrie abhing.
Nach Luxor verübten islamistische Fundamentalisten in Ägypten mehrere Jahre lang keinen Anschlag mehr auf Touristen. Erst im Oktober 2004 schlugen sie wieder zu: In den Badeorten Taba und Ras al-Schaitani auf der Sinai-Halbinsel explodierten mehrere Bomben und töteten 34 Menschen.
Das Blutbad von Luxor war – wie Felix E. Müller, ehemaliger Chefredaktor der «NZZ am Sonntag» und selber Überlebender des Massakers, richtig bemerkt – «das erste grosse Attentat weltweit, das von radikalen Islamisten gegen zufällige Opfer verübt wurde, mit dem Ziel, eine möglichst grosse Zahl von Unbeteiligten auf möglichst aufsehenerregende Weise zu töten».
Jetzt hätte man sehen können, «was militante Islamisten anstreben», stellt Müller fest. Doch dies geschah nicht. Die Erkenntnis, dass der militante Islamismus nun global agieren würde, brach sich erst mit den Anschlägen vom 11. September 2001 Bahn.
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