Es gab eine Zeit, da war die Beschäftigung mit dem Islam einigen Akademikern vorbehalten. Heute beherrscht die jüngste der drei abrahamitischen Religionen nahezu permanent die Schlagzeilen und in den Kommentarspalten befehden sich Islam-Hasser und Islam-Apologeten mit schäumendem Mund.
Trotz oder gerade wegen der verstärkten Auseinandersetzung mit dem Islam verliert so mancher den Überblick über die verschiedenen Spielarten und Gruppierungen dieser Religion. Der Prophet selber prophezeite: «Die Kinder Israels spalteten sich in 71 Gruppen und die Gemeinde Jesu in 72. Meine Gemeinde wird sich in 73 spalten, von denen alle in die Hölle gehen – bis auf eine.»
Userin Rhabarber ist vermutlich nicht die einzige, die sich mehr Klarheit wünscht:
Einen solchen Artikel haben wir. Kollege Kian Ramezani hat unlängst «6 Grafiken, 16 Fotos und 1 Video für alle, die immer von ‹dem› Islam reden» vorgelegt: eine brillante Übersicht über Alphabetisierung, Wohlstand, Sprachen und Konfessionen in der islamischen Welt. Diese Übersicht wird hier mit einer Art Glossar ergänzt, die häufig auftauchende Begriffe wie «Salafisten», «Wahhabismus» oder «Aleviten» genauer beleuchtet:
Diese beiden grössten Gruppierungen im Islam sind bereits kurz nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 entstanden; ihre Feindschaft hat sich an der Frage nach dessen Nachfolge entzündet. Heute ist der Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten einer der bestimmenden Faktoren im religiösen, aber auch politischen Gefüge des Nahen Ostens.
85 bis 90 Prozent der Muslime sind Sunniten. Sie dominieren in den meisten islamischen Ländern und vermochten die Schiiten meist in eine untergeordnete Position zu bringen. Diese sind in den Ländern des sogenannten schiitischen Halbmonds – Bahrain, Iran, Irak, Syrien und Libanon – in der Mehrheit oder bilden eine grosse Minderheit. Eine schiitische Mehrheit gibt es überdies in Oman und Aserbaidschan; eine namhafte Minderheit in Saudi-Arabien.
Der Name der Sunniten leitet sich ab von «Sunna» («Brauch», «Tradition»), womit die überlieferten Taten und Aussprüche des Propheten gemeint sind. Die Sunniten messen der Sunna in der Regel grössere Bedeutung zu als die Schiiten. Entstanden sind die Sunniten aus der Fraktion der frühen Muslime, die den Nachfolger Mohammeds aufgrund bestimmter Fähigkeiten wählen wollten und sich hinter dessen Schwiegervater Abu Bakr scharten.
Für die Schiiten hingegen kam nur ein Nachfolger aus der Familie des Propheten in Frage, sie favorisierten Mohammeds Vetter und Schwiegersohn Ali ibn Abi Talib. Man nannte sie daher «Schiat Ali» («Partei Alis»), kurz «Schia». Der Gegensatz mündete in einen ersten innerislamischen Bürgerkrieg («Fitna»).
Die «Partei Alis» verlor den Machtkampf gegen die Anhänger Abu Bakrs, der zum ersten Kalifen erhoben wurde. Die entscheidende Niederlage kam 680 mit der Schlacht von Kerbela im heutigen Irak: Der Enkel Mohammeds, Hussein, fiel mit wenigen Getreuen gegen eine grosse Übermacht. Die Schlacht, der die Schiiten jeweils am Aschura-Tag gedenken, begründete den schiitischen Opfer- und Märtyrerkult und besiegelte das Schisma.
Die theologischen Unterschiede zwischen den beiden grossen islamischen Konfessionen sind gar nicht so bedeutend. Die Sunniten betrachten den Kalifen – den Leiter der «Umma», der Gemeinschaft der Muslime – eher als weltlichen Führer. Für die Schiiten hingegen ist der Imam ein fast schon mit gottähnlicher Macht ausgestattetes Oberhaupt.
Besonders in der Zwölferschia gibt es ein starkes messianisches Element: Der zwölfte Imam, Mohammed ibn Hasan al-Mahdi, der im 9. Jahrhundert starb, lebt für die Gläubigen im Verborgenen weiter und wird dereinst als Erlöser (Mahdi) wiederkehren. In dieser Tendenz zur Vergöttlichung der Imame sehen die Sunniten Züge des Polytheismus.
Sunniten und Schiiten haben sich in mehrere Untergruppen geteilt, die man als «Rechtsschulen» («Madhhab») bezeichnet. Sie bestimmen die Auslegung von Koran und Sunna, die Anerkennung und Bewertung der zahllosen Hadithe sowie die theologische Antwort auf aktuelle Probleme. Bei den Sunniten gibt es vier:
Bei den Schiiten haben sich Abspaltungen vornehmlich anhand der Frage ergeben, wie viele Imame die rechtmässige Erbfolge aufweist. Einige Gruppen – zum Beispiel die Drusen oder die Baha'i – werden von anderen muslimischen Gemeinschaften nicht mehr als Muslime betrachtet. Die wichtigsten schiitischen Untergruppen:
Aleviten unterscheiden sich stark von Sunniten und Schiiten, aber da sie auch zwölf Imame – besonders Ali, nach dem sie benannt sind – verehren, werden sie meistens ebenfalls zu den Schiiten gerechnet. Sie selber bestreiten jedoch ihre Zugehörigkeit zur Schia. Die Glaubensrichtung entwickelte sich im 13. und 14. Jahrhundert in Anatolien, wo die Gemeinschaft heute noch überwiegend lebt, aus dem schiitischen Islam. Eine bedeutende alevitische Gemeinde existiert mittlerweile in Deutschland.
Aleviten lehnen im Gegensatz zu Sunniten und Schiiten die Scharia – das islamische Gottesrecht – ab. Den Koran verstehen sie als verbindlich, halten ihn aber für Menschenwerk. Sie verehren Allah, Mohammed und Ali als göttliche Einheit (islamische Trinität). Besonders strenggläubige Sunniten betrachten die Aleviten daher nicht als Muslime. Die Aleviten treten für einen säkularen Staat ein und befürworten Glaubensfreiheit sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Die zahlenmässig kleinste der ursprünglichen Richtungen des Islams – weniger als zwei Millionen Anhänger – sind heute die Ibaditen, die weder zu den Sunniten noch zu den Schiiten gehören. Die Ibaditen, eine gemässigte Spielart des Islams, sind aus einer frühislamischen Oppositionsbewegung – den Charidschiten – hervorgegangen, die nach der Ermordung des dritten Kalifen Uthman entstand. Die Charidschiten lehnten die Legitimation Alis ab und verlangten stattdessen, dass der «beste Muslim» das Amt bekleiden solle, ungeachtet seiner Abstammung. Alle charidschitischen Untergruppen ausser den Ibaditen sind heute verschwunden.
Im Laufe der Zeit wurden die Charidschiten immer mehr an die Peripherie der islamischen Welt gedrängt. Von anderen Muslimen werden die Ibaditen als Charidschiten bezeichnet, sie selber lehnen diese Zuordnung jedoch ab. Die Ibaditen folgen einer eigenen Rechtsschule, der Ibadija. Sie leben vor allem in Südalgerien, auf der tunesischen Insel Djerba und in Oman.
Die Ahmadija ist eine Reformbewegung des Islams, die sich auf die islamischen Rechtsquellen (Koran, Sunna und Hadithe) beruft. Sie wurde 1889 in Qadian im damaligen Britisch-Indien von Mirza Ghulam Ahmad gegründet, der sich als Mahdi der Endzeit und Wiederkunft von Jesus Christus, Krishna und Buddha bezeichnete. Zudem sah er sich als Prophet, wenn auch als Mohammed nachgeordneter. Vor allem deswegen wird die Ahmadija von den meisten anderen muslimischen Strömungen als Häresie abgelehnt, da Mohammed im Koran als «Siegel der Propheten» bezeichnet wird.
1976 schloss die Islamische Weltliga die Ahmadija offiziell als «ungläubige Gruppierung» aus dem Islam aus. Seither haben sich in mehreren islamischen Ländern Angriffe auf deren Angehörige gehäuft. Die Ahmadis betonen, dass Gewalt dem Islam fremd sei und sowohl Dschihad wie Kalifat rein spiritueller Natur seien. Allerdings übt die Ahmadija harsche Kritik am Christentum und betreibt eine offensive, missionarische Öffentlichkeitsarbeit in der westlichen Welt. Kritiker sehen in der Gemeinschaft eine Psycho-Sekte mit ausgeprägt finanziellen Ambitionen.
Der Salafismus ist derzeit die am schnellsten wachsende religiöse Gruppierung in Europa. Die Ursprünge dieser sunnitisch-islamistischen Strömung liegen vor allem in den islamisch-puristischen Erneuerungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich mit dem in Saudi-Arabien entstandenen Wahhabismus verband. Später kamen Einflüsse der Muslimbruderschaft hinzu.
Salafisten betreiben die Rückkehr zu einem Islam, den sie als ursprünglich und rein ansehen. Sie berufen sich dabei auf das Vorbild und Ideal der «frommen Altvorderen» («as-salaf as-salih») – die Gefährten des Propheten sowie die ersten drei Generationen der frühen muslimischen Gemeinde. Nahezu sämtliche späteren Änderungen in der Religionsausübung, die seit dieser idealisierten Frühzeit vorkamen, werden von ihnen als «unerlaubte Neuerungen» («bid’a») und Verfälschung der wahren Religion verworfen. Insbesondere lehnen die Salafisten die Rechtsschulen ab.
Sämtliche Ansätze zu Heiligenverehrung, wie sie besonders im westafrikanischen Volksislam vorkommen, sind den streng monotheistischen Salafisten ein Gräuel. Auch die westliche parlamentarische Demokratie mit der von der Verfassung garantierten Religionsfreiheit lehnen sie entschieden ab und streben danach, diese durch eine göttliche Rechtsordnung zu ersetzen. Der politische Flügel der Salafisten verfolgt dieses Ziel durch eine intensive Missionstätigkeit («da'wa»), während der dschihadistische Flügel auch Gewalt als geeignetes Mittel erachtet.
Wie die Salafisten vertrat der saudische Prediger Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703-1792) die Ansicht, die Muslime müssten zum angeblich unverfälschten Islam zurückkehren, wie er im 7.und 8. Jahrhundert existiert haben soll. Die nach ihm benannte Reformbewegung des Wahhabismus ist eine äusserst strenge Auslegung der hanbalitischen Rechtsschule.
Durch das Bündnis al-Wahhabs mit dem mächtigen Clan der Al-Saud konnte der Wahhabismus zur faktischen Staatsreligion Saudi-Arabiens werden. Das Königreich fördert die Verbreitung dieser puritanischen Ideologie in anderen Ländern mit dem Bau von Moscheen und Koranschulen. Die Bezeichnungen Wahhabismus und Salafismus werden heute oft synonym verwendet.
Der «mystische Islam» wird von Sufis praktiziert und gelehrt. Der Sufismus ist über tausend Jahre alt und wird in Männerorden gepflegt. Der Name stammt vermutlich vom arabischen Wort «Suf» («Wolle»); die ersten Mystiker, die massgeblich von christlichen Mönchen in Syrien und Ägypten beeinflusst wurden, trugen ein Wollkleid als Zeichen der Demut. Sufis geniessen oft hohes Ansehen, da sie Seelsorge und soziale Fürsorge betreiben.
Der Sufi-Islam gilt als tolerant. So gelang es zum Beispiel der islamischen Dynastie der Grossmoguln in Indien, die hinduistische Bevölkerungsmehrheit mithilfe eines duldsamen Sufi-Islams zu beherrschen. Heute gibt es über 70 Sufi-Orden. Besonders bekannt sind im Westen die Derwische, die den Sufismus praktizieren.
Sufis streben als religiöses Ziel an, bereits im Diesseits eine Vereinigung mit Gott zu verwirklichen. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigen sie einen spirituellen Meister, «Scheich» oder «Wali» genannt. Nicht zuletzt deswegen betrachten viele strenggläubige Muslime – besonders Salafisten und Wahhabiten – die Sufis mit Argwohn. Da im Islam zwischen Allah und dem Menschen kein Mittler stehen darf, verfolgen sie die Sufis als Abweichler. Für die Sufis selbst ist ihr jeweiliger religiöser Führer indes kein Mittler, sondern ein Meister, der sein Wissen an andere Gläubige weitergibt.
Die 1928 vom ägyptischen Volksschullehrer Hassan al Banna gegründete Muslimbruderschaft war zunächst eine Reaktion auf die britische Kolonialherrschaft und die damit verbundene, als dekadent empfundene Verwestlichung des Landes. Ihr Ziel war die Verbreitung von islamischen Moralvorstellungen und die Errichtung eines islamischen Staates mit der Scharia. Durch die Werke des einflussreichen Vordenkers Sayyid Qutb – vor allem der 1950 veröffentlichte Aufsatz «Unser Kampf mit den Juden» – verband sich ein starker, islamisch verbrämter Antisemitismus mit dem Islamismus der Muslimbrüder.
Zu Beginn der 40er-Jahre traten die Muslimbrüder zunehmend militanter auf und verübten auch Anschläge, um ihre Ziele durchzusetzen. Die Organisation wurde verboten, ihr Gründer ermordet. Dennoch wuchs die streng hierarchisch organisierte Gemeinschaft stark und begann, Ableger in anderen Ländern einzurichten. Hilfreich war dabei ihr soziales Engagement.
Nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mubarak 2011 kamen die Muslimbrüder auf demokratischem Weg an die Macht und konnten Mohammed Mursi ins Präsidentenamt hieven. Schnell zeigte sich, dass sich die Bruderschaft ebenso undemokratisch und korrupt verhielt wie das abgesetzte Regime. 2013 stürzten die Militärs Mursi, die Muslimbruderschaft wurde verboten.
Mehrere radikale dschihadistische Gruppen versuchen, ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen: