Darf die neutrale Schweiz anderen Ländern Waffen verkaufen? Auch solchen, die in Kriege verwickelt sind? Darüber wird gestritten, seit Emil Georg Bührle die Nazis im Zweiten Weltkrieg mit Oerlikon-Flugabwehrkanonen beliefert und im Gegenzug verfolgten jüdischen Sammlern hochkarätige Kunstwerke zum Dumpingpreis abgeluchst hatte.
Mehrfach gab es von links Vorstösse und Volksinitiativen für ein Verbot von Waffenexporten. Sie scheiterten, doch Bundesrat und Parlament verschärften die Bestimmungen. Umso grösser war die Aufregung, als Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann 2018 beantragte, Exporte in Länder zu ermöglichen, die in interne Konflikte verwickelt sind.
Schon damals argumentierte der Berner Freisinnige mit Aufträgen für die Rüstungsindustrie, die es auch im Interesse der Schweizer Armee zu erhalten gelte. Es gebe «keine Moral, ohne dass man etwas zu fressen hat», sagte Schneider-Ammann im Interview mit watson. Nach einer Welle der Empörung zog der Bundesrat den Vorschlag jedoch zurück.
Den Gegnern um die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) genügte dies nicht. Sie reichten die Volksinitiative «gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer (Korrektur-Initiative)» ein. Das Parlament verabschiedete als Gegenvorschlag vor zwei Jahren eine Verschärfung des Kriegsmaterialgesetzes, ohne eine vom Bundesrat beantragte Ausnahmeklausel.
Deren Streichung ermöglichte den Rückzug der Korrektur-Initiative. Nur einen Monat nach dem definitiven Beschluss der Initianten sah die Welt ganz anders aus. Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 entfachte die Exportdebatte erneut, denn mehrere Länder wollten in der Schweiz gekaufte Rüstungsgüter an die Ukraine liefern.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und der Bundesrat lehnten dies ab, mit Verweis auf das Neutralitätsrecht, das eine Gleichbehandlung aller Kriegsparteien verlange. Die Schweiz müsste demnach auch Gesuche für die Weitergabe an Russland bewilligen. An dieser von der Fachwelt kontrovers diskutierten Auslegung hält der Bund eisern fest.
Bestrebungen im Parlament, das Kriegsmaterialgesetz anzupassen, scheiterten bislang unter teilweise peinlichen Umständen, etwa einem Parteiengezänk zwischen SP und FDP. Am Dienstag nahm die Sicherheitspolitische Kommission (SiK) des Nationalrats einen neuen Anlauf für eine Lockerung – doch die Ukraine würde davon überhaupt nicht profitieren.
Wie vor fünf Jahren geht es um die Rüstungsindustrie. Sie soll einfacher Kriegsmaterial liefern können, auch in problematische Länder. Der Ständerat hatte eine entsprechende Motion schon in der Herbstsession durchgewinkt. Damit würde der Gegenvorschlag zur Korrektur-Initiative obsolet, was im Minimum ein Verstoss gegen Treu und Glauben wäre.
Die Kommission ist sich des Dilemmas bewusst. Sie betont in einer Mitteilung, dass es sich bei der angestrebten Lockerung um «keinen Freipass» handle. «Gewisse Verschärfungen», die für den Rückzug der Volksinitiative wichtig waren, blieben erhalten. Die GSoA hält wenig von solchen Beschwichtigungen. Sie erwägt gemäss Tamedia ein Referendum.
Die Zürcher SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf spricht in einer Mitteilung von einem «Geschenk an die Rüstungsindustrie». Profitieren würden Länder wie Katar oder Saudi-Arabien: «Den Menschen in der Ukraine bringt diese Motion hingegen nichts.» Empört äusserten sich auch die Grünen, die alle Waffenexporte prinzipiell ablehnen.
Doch würden die Schweizer Waffenhersteller wirklich profitieren? Zweifel sind angebracht. Die Europäer, ihre wichtigsten Kunden, sind wegen der Neutralitäts-Doktrin beunruhigt, ob sie im Kriegsfall aus der Schweiz bezogenes Material überhaupt einsetzen können. Im Frühjahr reichten mehrere Länder laut der NZZ beim Seco eine Demarche ein.
Dabei handelt es sich um ein relativ scharfes, diplomatisches Protestmittel. Kritische bis alarmierende Stimmen gibt es auch aus der Branche. «Die Schweiz ist kein verlässlicher Partner mehr in der Rüstungsindustrie. Das bekomme ich noch und noch zu hören», sagte Oliver Dürr, Leiter des Schweizer Ablegers des deutschen Rheinmetall-Konzerns, der NZZ.
«Mit unserem Neutralitätsfanatismus zerstören wir unsere Rüstungsindustrie», wetterte Martin Hirzel, der Präsident des Industrieverbands Swissmem. Damit legte er den Finger auf den wunden Punkt, denn im Endeffekt geht es um ein für die Schweiz existenzielles Thema: die Neutralität. Daran ändert auch die angestrebte Lockerung der Ausfuhrregeln nichts.
Eine simple Lösung gibt es nicht. Zumindest für die Ukraine ist nicht alles verloren. Eine Subkommission der SiK berät über das «Uniting for peace»-Konzept, das die Weitergabe von Waffen ermöglicht, wenn der UNO-Sicherheitsrat oder zwei Drittel der Generalversammlung einem angegriffenen Staat das Recht auf Selbstverteidigung gemäss UNO-Charta einräumt.
Im Fall der Ukraine träfe dies zu, die Vollversammlung hat Russlands Angriffskrieg mehrfach mit grossem Mehr verurteilt. Die Idee geistert seit Längerem durch die Politik, doch im Parlament wird sie gemäss Tamedia frühestens in der Sommersession 2024 traktandiert. Derweil muss sich die Ukraine auf einen zweiten harten Kriegswinter vorbereiten.